Serbiens Sehnsucht nach Normalität: Balkanstaat will EU-Mitglied werden

Serbien im Aufbruch zur EU? Im Regierungsviertel von Belgrad steht noch immer die Ruine des Verteidigungsministeriums, das die Nato 1999 im Kosovo-Krieg beschossen hatte.
Serbien im Aufbruch zur EU? Im Regierungsviertel von Belgrad steht noch immer die Ruine des Verteidigungsministeriums, das die Nato 1999 im Kosovo-Krieg beschossen hatte. Foto: Rena Lehmann

Wenn man Tanja Miscevic zuhört, wie sie vom nahenden Beitritt Serbiens zur EU erzählt, schwinden für einen Moment alle Zweifel. Der einstige Krisenstaat im Balkan hat im Januar die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Bis 2020 wollen sie es geschafft haben, sagen Optimisten wie die Politikprofessorin. Miscevic betet die juristischen Schritte und Standards, die das Land gehen und erreichen muss, routiniert herunter. Es ist die Gebrauchsanweisung für den EU-Beitritt.

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Von unserer Redakteurin Rena Lehmann

Miscevic betet die juristischen Schritte und Standards, die das Land gehen und erreichen muss, routiniert herunter. Es ist die Gebrauchsanweisung für den EU-Beitritt. Miscevic sagt: Serbien soll endlich ein ganz normales Land in Europa sein. Ein Mitglied des Klubs, in dem für alle die gleichen Regeln gelten. Doch die Skepsis ist groß, denn man sitzt zwischen den Stühlen. Zwischen Russland und der EU, zwischen ungelösten Spätfolgen der Kriege.

Miscevic muss sich sozusagen von Berufs wegen für den geplanten EU-Beitritt ihres Landes begeistern. Als Delegationsleiterin des Integrationskomitees ist sie an höchster Stelle dafür zuständig, dass Serbien EU-fit wird. Sie muss die Justiz umkrempeln, Korruption bekämpfen, dafür sorgen, dass Recht in der Praxis wirklich gilt. Eine Mammutaufgabe.

Weihbischof Andrej Cilerdzic will den Kosovo nicht preisgeben.
Weihbischof Andrej Cilerdzic will den Kosovo nicht preisgeben.
Foto: Rena Lehmann

Denn das Land ächzt unter vielen Sorgen, vor allem unter hoher Arbeitslosigkeit, die je nachdem, wen man fragt, mal auf 25 Prozent, mal sogar auf mehr als 30 Prozent geschätzt wird. Fragt man Serben in Belgrad nach der wirtschaftlichen Lage, dann zucken viele von ihnen resigniert mit den Schultern. Oder sie sind verärgert, wie die Journalistin Maja Vojnovic von der serbischen Nachrichtenagentur Tanjug. „Es ist der Alltag, der bei uns nicht funktioniert. Alles ist beschwerlich“, sagt sie. Wenn sie ein Medikament braucht, müsste sie mehrere Behördengänge mit langen Wartezeiten in Kauf nehmen, um es zu bekommen. Und oft muss man unter der Hand noch etwas Geld drauflegen. „Wir haben es mit einer systematischen Korruption zu tun“, sagt Tanja Miscevic nüchtern.

Aber es ist nicht nur die Korruption, die andere Länder der EU manchmal an der Beitrittsfähigkeit Serbiens zweifeln lässt. Es fehlen eine wirksame Opposition und kritische Medien. Als sich Aleksandar Vucic, seit Anfang vergangener Woche Ministerpräsident Serbiens, im Wahlkampf befand, hat nur ein einziger Sender über seine zweite Hochzeit berichtet. Der Sender soll anschließend unter Druck gesetzt worden sein. Internationale Beobachter in Belgrad machen „Selbstzensur“ bei serbischen Journalisten aus. „Sie haben Angst vor Vucic und schreiben deshalb erst gar nichts, was ihm missfallen könnte“, meint der Vertreter einer deutschen Stiftung in Belgrad.

Tanja Miscevic (Mitte) soll Serbien im Auftrag der Regierung für den EU-Beitritt fit machen. Als realistisches Datum für den Beitritt nennt sie 2020.
Tanja Miscevic (Mitte) soll Serbien im Auftrag der Regierung für den EU-Beitritt fit machen. Als realistisches Datum für den Beitritt nennt sie 2020.
Foto: Rena Lehmann

All das macht die politischen Verhältnisse nicht einfacher. Vucic gehört der nationalkonservativen Serbischen Fortschrittspartei an. Er war im vorigen Regierungsbündnis bereits Vizepremier. Vor wenigen Jahren noch hielt er gar nichts von einer Annäherung an Europa. Manche bezeichnen ihn heute noch als Nationalisten und Volksverhetzer, nehmen ihm die rasche Kehrtwende nicht ab. Politiker anderer Parteien nennen Vucic zynisch den „neuen Europäer“. Trotzdem ruhen die Hoffnungen auf ihm. Das neue Parlament gilt als proeuropäisch, immerhin.

Der entscheidende Punkt beim EU-Beitritt wird ohnehin die Beantwortung der Kosovo-Frage sein. Die serbische Regierung betrachtet die von den meisten Ländern inzwischen anerkannte Republik Kosovo nach wie vor als Teilregion Serbiens und verweigert dem Land die Anerkennung. Die EU ist hier deutlich: Ohne die Anerkennung des Kosovos wird es keinen Beitritt Serbiens geben. Vor zwei Jahren haben der Kosovo und Serbien einen zaghaften Dialog begonnen. Man ist vorerst zufrieden, wenn die Verhältnisse beider Länder zueinander sich „normalisieren“. „Es gibt Fragen, die absichtlich nicht zu Ende diskutiert werden“, meint ein internationaler Beobachter.

12 Millionen Gläubige weltweit

Wenn man verstehen will, wie tief der Konflikt um den Kosovo wirkt, muss man das Patriarchat der serbisch-orthodoxen Kirche in Belgrad besuchen. Die Bischöfe hier sehen sich im Aufwind. Der laufende Weiterbau der großen Sava-Kirche im Herzen der Stadt wirkt da wie ein Symbol für die erstarkende Kirche. Der heilige Sava ist Schutzpatron der Serben. Weihbischof Andrej Cilerdzic berichtet von 12 Millionen Gläubigen weltweit. Seit vor einigen Jahren der Religionsunterricht an Schulen wieder eingeführt wurde, gewinnt die Kirche an Einfluss zurück. Vielleicht ist es aus dieser wiedergewonnenen Stärke zu erklären, dass zum Kosovo niemand so unversöhnliche und entschiedene Worte findet wie der Weihbischof. „Entweder gehen wir mit dem Kosovo in die EU oder gar nicht“, sagt Cilerdzic.

Die Serben im Kosovo fühlten sich verraten, wenn Serbien sie fallen ließe, so meint er. Für ihn steht fest: „Man könnte sich doch wohl in Deutschland auch nicht vorstellen, dass eine Stadt, in der nur Türken leben, plötzlich beschließt, dass sie nicht mehr zu Deutschland gehört.“ Seine Worte klingen nicht nach einem baldigen Kompromiss. Allerdings ist auch fraglich, wie weit der Einfluss der Kirche tatsächlich reicht.

EU-Beitritt ist notwendig

Von Regierungsvertretern hört man solch klaren Sätze zur Kosovo-Frage offiziell nicht. Und die Menschen auf der Straße würden den EU-Beitritt auch nicht leichtfertig an der Kosovo-Frage scheitern lassen, meinen Beobachter. Der Ton ist gemäßigt, pragmatischer geworden. Für viele ist der EU-Beitritt schlichte Notwendigkeit.

Tanja Miscevic berichtet von Umfragen, wonach sich heute 55 Prozent der Serben den EU-Beitritt wünschen. Die Begeisterung war schon größer. 2002 wollten noch 75 Prozent den Beitritt. Miscevic kann auch das erklären. Der Prozess sei lang und schwierig, deshalb sei die Begeisterung zwischenzeitlich etwas eingebrochen. Ein deutscher Diplomat etwa ist der Ansicht, dass „Serbien heute schon sehr viel besser dasteht als Bulgarien fünf Jahre nach dem Beitritt“. Politisch ist das Land allerdings schwer einzuschätzen. Ob der gewendete „neue Europäer“ Vucic es ernst meint mit Europa, wird in den nächsten Monaten rasch sichtbar werden.

Viele Alternativen hat das Land derzeit nicht. Die Freundschaft zu Russland ist nach wie vor eng, doch wirtschaftliche Hilfe erwartet man sich von dort nicht. Für die EU bleibt allerdings auch Serbien ein unwägbarer Partner. In der Ukraine-Krise bezieht das Land aus Rücksicht auf Russland lieber überhaupt nicht Stellung. Für manche Europäer ist Serbien ein Land „mit vielen Unwägbarkeiten“. Neben einer mit der Euro-Krise einhergehenden grundsätzlichen Erweiterungsmüdigkeit vor allem in Deutschland, sehen manche nicht, dass das Land seine Konflikte tatsächlich lösen kann. Aber kann man ihm den Zutritt verweigern, wenn seine Nachbarstaaten wie Kroatien, Rumänien und Bulgarien längst dabei sind? Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die Integration der Balkan-Staaten in die EU als einzige Lösung, um dauerhaft in der Region Frieden zu schaffen. Für einen Taxifahrer in Belgrad ist der Beitritt einziger Hoffnungsschimmer: „Ohne den Druck der EU kommen wir doch gar nicht vorwärts“, sagt er mit großer Entschiedenheit.