Mehr als 22 Prozent der Deutschen haben ersten Piks: Warum Experten keine Entwarnung geben

Von Gisela Gross
Impfen
Mit einer Impfung schützen Menschen nicht nur sich selbst, sondern indirekt auch die anderen. Bei einer hohen Impfquote kann sich ein Erreger schwerer in der Bevölkerung verbreiten. Foto: Ole Spata

Am Anfang war die Kurve flach, mittlerweile steigt sie steiler an: Die Rede ist ausnahmsweise mal nicht nicht von Corona-Infektionen, sondern von den Impfungen dagegen. Laut Robert Koch-Institut (RKI) waren am Freitagmorgen 22,2 Prozent der etwa 83 Millionen Menschen in Deutschland mindestens einmal geimpft – rund jeder Fünfte also, Tendenz steigend. Insgesamt sind laut Statistik des RKI inzwischen deutlich mehr als 24 Millionen Spritzen gegen Corona gesetzt worden. Zweifellos eine hohe Zahl. Auf der anderen Seite sind jedoch noch viele Millionen Menschen gänzlich ungeschützt. Und den zweiten Piks für den vollen Schutz gab's bisher erst für etwa 7 Prozent der Bevölkerung. Wo steht Deutschlands Impfkampagne also? Ebnet sie bereits den Weg aus der Pandemie?

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Noch warnen Experten, sich nicht zu früh zu freuen. „Bei einer Impfquote von 20 Prozent haben wir noch keinen großen, signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen, auf die Fallzahlen“, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Die Erstimpfung biete einen guten Schutz vor schweren Verläufen, aber Ansteckungen seien weiterhin möglich. „Das heißt: Wir brauchen die Zweitimpfung, um den Schutz besser und dauerhafter zu machen und mehr Infektionen zu verhindern“, sagt Watzl.

Je nach Impfstoff variiert die empfohlene Zeit zwischen Erst- und Zweitimpfung: Es geht um bis zu drei Monate. „Aber es werden sich auch voll Geimpfte hin und wieder anstecken, der Schutz beträgt ja nicht 100 Prozent.“ Mit den bisherigen Impfungen haben vor allem die Menschen mit dem höchsten Risiko für schwere und tödliche Verläufe einen Schutz: über 80-Jährige. „In der Gruppe sind die meisten geimpft“, sagt Watzl. Klar ist: Die Zahl der täglich gemeldeten Toten ist im Vergleich zur zweiten Welle deutlich gesunken. Auch bei den Inzidenzen sehen Fachleute eine Verschiebung hin zu den jüngeren Altersgruppen. Watzl spricht von einem ersten Erfolg.

Viele gefährdete Menschen sind jedoch weiter ohne Schutz. Um welche Dimension es geht, wird vermutlich oft unterschätzt: Das RKI sieht wegen Alter und Vorerkrankungen bei 36,5 Millionen Menschen in Deutschland ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19, davon zählt das Institut 21,6 Millionen zur Hochrisikogruppe.

„Bei Menschen über 60 und Menschen mit Vorerkrankungen haben wir gerade erst angefangen zu impfen. Das wird noch eine Weile dauern“, betont Watzl. Schutz für diese große Gruppe aufzubauen, müsse jetzt das Hauptziel der Impfkampagne sein. „Da müssen wir jetzt ein bisschen auf die Tube drücken. Realistisch können wir nur den Schutz dieser vulnerablen Menschen in der dritten Welle schaffen.“ Anzustreben sei zunächst eine Impfquote von 70 bis 80 Prozent bei den Risikogruppen. „Wenn uns das gelingt, wird sich auch die Belegung der Intensivstationen reduzieren“, schätzt der Immunologe. Selbst das wäre aber kein Freifahrtschein für Lockerungen. „Sonst bekommen wir riesige Inzidenzen in der übrigen ungeimpften Bevölkerung. Deren Risiko für eine schwere Erkrankung ist ja nicht null. Bei einer hohen Zahl an Fällen würde es weiter zu einer großen Krankenhausbelegung kommen. Wir können es nicht so laufen lassen.“

Eine Studie von Mitte April im Fachblatt „The Lancet Respiratory Medicine“ zeigt, dass eine durchgemachte Corona-Infektion junge Erwachsene nicht komplett vor erneuter Ansteckung schützt. Nach der Statistik haben in Deutschland bisher gut drei Millionen Menschen die Infektion durchgemacht. Allerdings gehen Experten von einer recht hohen Dunkelziffer nicht erkannter Fälle aus.

Aus Ländern, die sehr schnell und viel geimpft haben, kommen ermutigende Signale: In Israel, wo die Impfungen am 19. Dezember begonnen hatten, ist inzwischen mehr als die Hälfte der neun Millionen Einwohner zweifach geimpft. Seit dem Höhepunkt der dritten Welle Mitte Januar hat es in dem Land 98 Prozent weniger Fälle, 93 Prozent weniger Schwerkranke und 87 Prozent weniger Tote gegeben, twitterte der Forscher Eran Segal vom Weizman Institut. Seit Anfang Februar zeigte sich nach Daten des Gesundheitsministeriums ein klarer Abwärtstrend beim Anteil positiver Tests. Auch ein Rückgang bei schweren Erkrankungen ist zu erkennen.

Auch in Großbritannien sinken die Zahlen der Neuinfektionen und Todesfälle, nachdem Anfang Januar eine katastrophale Situation mit 70.000 Neuinfektionen pro Tag verzeichnet worden war. Premier Boris Johnson und Mediziner wie Azeem Majeed vom Imperial College London führen das aber nicht nur auf die schnell fortschreitende Impfkampagne zurück, sondern auch auf die langen, harten Beschränkungen.

Über Monate hinweg durften Briten etwa nur eine Person außer Haus treffen und dies auch nur zum Sport oder Spaziergang. Sein Zuhause ohne triftigen Grund zu verlassen, war nicht erlaubt. Reisen ins Ausland und private Treffen in Innenräumen sind bis heute strikt verboten. Nun haben mehr als 32 Millionen Menschen und damit rund die Hälfte der Bevölkerung eine erste Impfung. Einer Schätzung von Public Health England zufolge sollen die Impfungen 10.400 Corona-Todesfälle bei über 60-Jährigen verhindert haben.

Für Deutschland machte kürzlich ein RKI-Modell deutlich, dass voraussichtlich einige Geduld nötig sein wird, bevor der Fortschritt beim Impfen mehr Freiheiten erlaubt: Eine Überlastung der Intensivkapazitäten kann demnach nur vermieden werden, wenn Lockerungen „vorsichtig erst ab Mai/Juni 2021“ und dann zunehmend bis in den Spätsommer erfolgen, „wenn ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist“.

Die Politik hat bis zum Ende des Sommers ein Impfangebot für jeden (Kinder ausgenommen) in Aussicht gestellt. Ob das klappt, lässt sich schwer vorhersagen. Da wären auch noch einige Unwägbarkeiten: Kommen die angekündigten Liefermengen wie erhofft? Was passiert, wenn sich Virusvarianten durchsetzen, gegen die Geimpfte und Genesene nicht optimal geschützt sind? Drohen nach den seltenen Nebenwirkungen bei Astrazeneca weitere unerwartete Rückschläge für die Impfkampagne? Experten befürchten, dass die seltenen Blutgerinnsel in Hirnvenen ein generelles Problem von Vektorimpfstoffen sein könnten. Sollte sich nach ersten Fällen in den USA auch beim Präparat von Johnson & Johnson eine Häufigkeit der Nebenwirkung wie bei Astrazeneca herausstellen, könnte es sein, dass das Mittel hierzulande doch ebenfalls nur für ältere Menschen empfohlen wird.

Angesichts dieser sich abzeichnenden Entwicklung bringt es Watzl zufolge nichts, auf den russischen Impfstoff Sputnik V für die Jüngeren zu hoffen: Das Präparat ist ebenfalls ein Vektorimpfstoff. „Ich sehe die Gefahr, dass uns wegen dieser seltenen Nebenwirkungen rund die Hälfte der Impfdosen für die Sommermonate wegbricht“, sagt der Immunologe. „Dann haben wir für die unter 60-Jährigen erst einmal noch nicht genügend mRNA-Impfstoffe.“

Es gibt aber auch gute Nachrichten: Eine Art Entwarnung gab der Virologe Christian Drosten zur befürchteten Ausbreitung der südafrikanischen Virusvariante, sobald mehr Menschen einen Impfschutz haben. „In einer vollkommen geimpften Bevölkerung“ werde sich dieses Virus zwar verbreiten, sagte er im „Coronavirus-Update“ bei NDR-Info. „Nur es wird in einer immunen Bevölkerung stattfinden, das ganze Phänomen. Und das bedeutet, wir haben ein dominantes, relativ harmloses Erkältungsvirus. Obwohl es heute aus unserer jetzigen Sicht die böse südafrikanische Variante ist.“ Gisela Gross