Neidisch auf Geimpfte: So unterschiedlich fallen die Reaktionen aus
„Ich gönne jedem von Herzen seine Impfung. Aber wieso bekomme ich keine?“ Diese Aussagen hat wohl schon jeder gehört von Menschen, die sich außen vor fühlen bei der Priorisierung im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die nicht zu sagen wagen, dass sie geimpft sind. Weil sie Neider fürchten. Oder Nachfragen. Weil sie jung sind, aber krank, und deshalb früher als die meisten geimpft wurden.
Vergleiche sind evolutionär bedingt
Die sozialen Netzwerke sind voll mit Fotos von Oberarmen mit Pflaster oder Bildern von Impfpässen. Macht das etwas mit den Betrachtern? Liegt es am Charakter, ob ein Mensch sich mitfreut oder neidisch wird? Philosophen, Ethiker und Kirchenmänner haben sich durch alle Zeiten mit dem Phänomen Neid auseinandergesetzt. Sie haben es als „Trauer über das Gut des anderen“ definiert, es zur Todsünde erklärt oder vor „gemeinschaftsschädigender Wirkung“ gewarnt. Sie entdeckten neben der böswilligen Variante auch konstruktive Züge, zum Beispiel einen Ehrgeizschub, um das zu erreichen, was der andere schon hat. Einig sind sich viele Forscher heute: Der Vergleich mit anderen gehört zur menschlichen Evolution. „Der Neid ist die aufrichtigste Form der Anerkennung“, schrieb der Humorist Wilhelm Busch.
Gibt es jetzt so etwas wie Impfneid? „Ich würde das nicht so sehr als klassischen Neid bezeichnen“, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Es sei mehr ein Gefühl von Zurücksetzung. „Dahinter steckt die Angst, dass man zu kurz kommt und an Covid-19 erkrankt, auch schwer.“ Diese Angst werde noch befeuert, wenn ein Impfstoff rationiert werde – oder auch durch neue Mutanten.
Neid sei in dieser Situation vollkommen verständlich und sollte auch nicht tabuisiert werden, sagt dagegen der Psychoanalytiker Eckehard Pioch, Mitherausgeber des Buchs „Neid. Zwischen Sehnsucht und Zerstörung“, im Berliner Inforadio. „Ich brauche etwas dringend und habe es nicht. Ich sehe aber jemand anderen, der es bereits hat. Dann entsteht dieses Gefühl, diese Mischung aus Angst, Wut und Traurigkeit, die wir Neid nennen.“ In Debatten auf der Straße oder im Supermarkt klingt das nicht ganz so akademisch. Manche fragen sich nach ihrer eigenen Systemrelevanz und schauen beispielsweise skeptisch auf die Friseurläden: Ist ein Haarschnitt etwa ein Menschenrecht? Sie fühlen sich alleingelassen von der Politik, schreiben Briefe an Minister oder wenigstens an Landräte, um ihrem Frust Luft zu machen.
Für Psychologin Heuser ist die hoch emotionale Gemengelage eine Folge von Verfügbarkeit, wenn ein lebenswichtiges Gut wie Impfstoff knapp ist. „Da kommt der egozentrische Drang in jedem hoch: Ich will das aber auch.“ In einer Berliner Hausarztpraxis regt sich der Doktor auf, dass er gerade einen kerngesunden Steuerfahnder impfen musste. „Priorisiert“, sagt er. „Ich bekomme pro Woche zwei Fläschchen Impfstoff für die ganze Praxis.“ Und beim Nierenspezialisten nebenan seien die Organtransplantierten noch immer nicht immunisiert. „Da haut doch irgendwas nicht hin.“ Auch Charité-Ärztin Heuser kennt solche Stimmungen. „Es ist das Misstrauen, ob allen Geimpften ihre Immunisierung auch zusteht“, sagt sie. Sie selbst habe erlebt, dass zwei Menschen, die weder vom Alter noch von ihrer Gesundheit her berechtigt gewesen seien, eine Impfbescheinigung von ihrem Arzt bekommen hätten. „Ich finde das moralisch verwerflich, auch von dem Arzt“, urteilt sie. „Die beiden haben das triumphierend erzählt. Das ist dann noch ein Stück widerlicher.“
Gibt es auch das Gegenteil? Impfscham, also die Sorge berechtigter Menschen, über ihren Piks zu reden? „Muss man ja nicht“, sagt Heuser. „Aber wenn, würde ich jedem Berechtigten raten, eine Erklärung dazuzusagen.“ Niemand müsse dabei jedoch in Einzelheiten gehen und zum Beispiel eine chronische Krankheit offenbaren. „Die Reaktionen werden ja deshalb gefürchtet, weil man unter dem Verdacht steht, dass man sich unberechtigterweise vorgedrängelt hat.“ In einer Situation, in der es ohnehin genug gesellschaftliche Konflikte gebe, sei es durchaus sinnvoll, Spannung herauszunehmen.
Doch der Druck wächst, vor allem mitten in der Debatte, welche Freiheiten Geimpfte zurückbekommen könnten. „Dass ihnen Freiheiten, die ihnen zustehen, wieder zurückgegeben werden, das finde ich richtig“, sagt Heuser spontan. Aber genau das könne natürlich den Drang nach der Impfung noch immens vergrößern. Und damit auch die Emotionalität bei diesem Thema.
Ein Zeichen der Humanität
Auf den Ethikrat ist die Psychologin bei Freiheitsfragen weniger gut zu sprechen. „Er entwickelt meiner Meinung nach keine wirklich pragmatischen Lösungen.“ Sie finde es gut, wenn sich ein Land auf eine Priorisierung verständige – welche auch immer. „Dann muss man sie aber auch mit allen Folgen vertreten. Auch wenn es dabei Enttäuschungen bei den Teilen der Bevölkerung gibt, die noch nicht mit der Impfung dran sind.“
Psychoanalytiker Pioch sieht die Bundesbürger nicht hilflos ihren Emotionen ausgeliefert. Gut sei es, konstruktiv auf Neidgefühle zu reagieren, rät er. Das beginne damit, sie sich einzugestehen. Beim Warten auf die Impfung helfe es, sich bewusst zu machen, dass es eine Reihenfolge nach Bedürftigkeit gebe. Das könne trösten. Denn es sei auch etwas zutiefst Humanes, sich zuerst um die Schwachen zu kümmern. Ulrike von Leszczynski