Balduinstein

Wohngruppe ist letzte Chance: Traurigen Seelen einen neuen Halt geben

Ella und Max Gowin machen zusammen Hausaufgaben. Ella besucht in Begleitung einer Mitarbeiterin stundenweise eine Förderschule.  Foto: Hephata
Ella und Max Gowin machen zusammen Hausaufgaben. Ella besucht in Begleitung einer Mitarbeiterin stundenweise eine Förderschule. Foto: Hephata

„Wir versuchen, Kindern Halt zu geben, die keine Liebe erfahren haben“, sagt Anette Maaß. Sie ist Gruppenleiterin der intensivpädagogischen Wohngruppe der Hephata-Jugendhilfe in Balduinstein. Für Ella (15, Name geändert) ist die Wohngruppe die letzte Chance. Anette Maaß: „Nach uns gibt es keine großen Optionen mehr.“

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Die gab es für Ella auch schon vorher nicht: Ihren Vater und ihre fünf Halbgeschwister hat sie nie kennengelernt. Ihre Mutter war erst 16 Jahre alt, als Ella zur Welt kam. Zusammen lebten sie in einer Mutter-Kind-Gruppe der Jugendhilfe, dann gab die Mutter ihre Tochter ab. Ella kam in Pflegefamilien und 16 verschiedene Wohngruppen, nirgendwo konnte die 15-Jährige lange bleiben: „Ich hatte oft Streit mit anderen und war gewalttätig. Manchmal kochen die Gedanken in meinem Kopf hoch und sind nicht gut für mich.“

In der Wohngruppe in Balduinstein leben sieben Kinder und Jugendliche im Alter zwischen elf und 16 Jahren. Sie leben hier, weil sie herausforderndes Verhalten zeigen, anecken und nicht klarkommen in der Gesellschaft. „Die Kids haben aufgrund ihrer Geschichte nicht ihren Platz gefunden. Sie haben einfach größere Päckchen mit sich herumzutragen als andere“, sagt Pädagoge Max Gowin (36).

Wenig Zuneigung vom Elternhaus

Die Päckchen sind geschnürt aus Bindungsstörungen, psychischen Störungen, Drogen- oder Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, hauptsächlich aber aus zu wenig Zuneigung und Empathie im Elternhaus. „Viele von ihnen sind nie umarmt worden. Ella hat mal zu mir gesagt, dass sie gar nicht weiß, wie es ist, mit einer Mama und einem Papa zu leben. Ich habe ihr gesagt, dass wir die Familie nicht ersetzen können, aber dass wir für sie da sind und ihr helfen“, sagt Anette Maaß.

Die Betreuung in der Wohngruppe ist deswegen intensiv, mit einem Personalschlüssel von 1:1, die Warteliste lang. Intensivpädagogische Einrichtungen wie diese sind gefragt: „Es gibt immer mehr Kinder und Jugendliche, die nicht gesellschaftskonform, nicht mit der Gesellschaft verträglich sind“, sagt Max Gowin. Seine Kollegin ergänzt: „Für mich sind es traurige Seelen, die Zeit und Lob brauchen und Liebe wollen.“ Das versucht in der WG in Balduinstein ein Team aus Voll- und Teilzeitkräften zu geben. Meistens sind drei Mitarbeitende gleichzeitig im Dienst, nachts einer. Zwei Jugendliche werden in der Wohngruppe unterrichtet, weil ein Schulbesuch für sie nicht möglich ist.

„Viele von ihnen sind nie umarmt worden." Gruppeleiterin Annette Maaß über die betroffenen Jugendlichen

Ella besucht stundenweise eine Förderschule, in Begleitung einer Mitarbeiterin. Die kümmert sich mit einer halben Stelle nur um Ella, geht mit ihr zu Therapien und Terminen, unternimmt mit ihr Ausflüge und wird sie bald auch zum therapeutischen Reiten begleiten. Ansonsten gehen die Kinder und Jugendlichen mit den Mitarbeitern zum Yoga, ins Schwimmbad oder Kino, machen zusammen Hausaufgaben oder kochen gemeinsam. Sie sind auch oft in der Natur unterwegs und haben sich mit dem Anbau von Obst- und Gemüse im Garten der Wohngruppe beschäftigt.

Ausbrüche sind seltener geworden

Ella wohnt seit April in einem der Einzelzimmer der Wohngruppe. Ihre Ausbrüche sind seltener und weniger intensiv geworden. Zwei waren es bislang. Beim ersten holte sie selbst das Telefon, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Polizei anrufen. Denn so war das in der Vergangenheit oft gelaufen. „Sie war überrascht, dass wir das nicht getan und die Situation mit ihr ausgehalten haben“, sagt Max Gowin. „Ella fängt langsam an, Vertrauen zu uns aufzubauen, über ihre Gefühle und Probleme zu reden. Sie ist bei uns anders. Sie kämpft jeden Tag mit sich“, so Anette Maaß.

Ellas Ziele sind es, Freunde zu finden und ihre 200 Kilometer entfernt lebende Oma wiedersehen zu können. Sie sagt: „Ich wünsche mir so sehr, dass ich es schaffe, nicht mehr so schnell auszurasten und mehr zu reden. Manchmal denke ich, dass ich kein gutes Mädchen bin.“ Anette Maaß tröstet Ella und sagt: „Wir sind von Ella sehr überrascht und stolz auf sie. Wir nehmen sie und die anderen an die Hand und zeigen ihnen, da geht es lang. Sonst sind sie manchmal im Leben verloren.“ red