Kommentar: Mensch mit Stärken und Schwächen

Chefredakteur Christian Lindner zum Geburtstag von Helmut Kohl.

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Chefredakteur Christian Lindner zum Geburtstag von Helmut Kohl

Helmut Kohl – der Kanzler der Einheit, der Motor Europas, der Vater des Euro, der geniale Instinkt-Politiker, der Hartnäckige, der Zupackende, der Fels, der scheinbar ewige CDU-Vorsitzende, DER deutsche Politiker der 80er- und 90er-Jahre. Aber auch: der Aussitzer, der Zauderer, der naive Verkünder blühender Landschaften im Osten Deutschlands, der Verspottete, der Spenden-Verschweiger. All das trifft, je nach Standpunkt und Perspektive mehr oder weniger, auf Kohl zu – und zeigt in seiner Spannbreite: Kohl und sein Lebenswerk sind nicht in einem Prädikat zu bewerten. Also differenzieren wir.

Kohl, der Berufspolitiker: Der Ludwigshafener zeichnet schon Ende der 50er-Jahre den neuen Typus des Politikers vor, der aus Studium und Nachwuchsorganisation der Parteien ohne sonstige Lebenserfahrung in die Parlamente gleitet. 1958 schließt er sein Studium ab, 1959 schon zieht er für 17 Jahre in den Landtag ein, es folgen 26 Jahre Bundestag. Das prägt Kohl – und solche Karrieren und Typen prägen auch die Republik: Politik bestimmt das ganze Leben. Das ermöglicht Ausdauer, engt aber auch den Blick ein.

Kohl, der junge Wilde: Vielfach wird übersehen, dass Kohl in seinen jungen Jahren in Rheinland-Pfalz ein geradezu stürmischer Progressiver war. Ministerpräsident Altmeier, den Kohl mit seiner schon damals wirkmächtigen Mischung aus Instinkt und Energie aus dem Amt drängt, hat das Land mehr verwaltet. Der junge Ministerpräsident Kohl baut es mutig um. Er zieht, gegen massivste Widerstände, aber im klugen Schulterschluss mit der SPD, die Kommunalreform durch – bis heute Garant für ein funktionierendes und meist harmonisches kommunales Gefüge in Rheinland-Pfalz. Und er schart bewusst weitere Veränderer um sich, etwa Heiner Geißler als visionären Sozialminister.

Kohl, der Hartnäckige: Nach seiner glücklichen Zeit als Ministerpräsident in Mainz übersteht Kohl als Oppositionsführer in Bonn 1976 bis 1982 harte Jahre, in denen viele andere kapituliert hätten: So erklärt die CSU der CDU mit ihrem Trennungsbeschluss von Kreuth gleichsam den Krieg, Strauß ringt ihm 1979 gar die erneute Kanzlerkandidatur ab, im Vergleich zum brillanten Helmut Schmidt wirkt Kohl tapsig. Und doch hält er durch: Als die SPD/FDP-Koalition 1982 zerbricht, wird er Kanzler – und zieht die Liberalen für viele Jahre auf die Seite der Union. Mehr noch: Er regiert 16 Jahre – länger als Adenauer.

Kohl, der „ewige“ CDU-Vorsitzende: 1973 löst Kohl Barzel als CDU-Chef ab – und er bleibt es bis 1998. 25 Jahre lang. Anfangs beschert Kohl den Christdemokraten neue Vitalität – etwa indem er Querdenker wie Kurt Biedenkopf als Generalsekretär holt und machen lässt. Schleichend aber wird aus dem anfänglichen Quecksilber Blei: Die CDU erstarrt zum Kanzlerwahlverein, wird rituell, das Konrad-Adenauer-Haus verflacht von der Denkfabrik zum Dienstleister. Kritik prallt an Kohl ab, Aufstände wie 1989 beim Parteitag in Bremen von Süssmuth, Geißler und Späth schlägt der in der Partei bestens vernetzte geniale Kommunikator nieder.

Kohl, der zögerliche Innenpolitiker: Im Bundestagswahlkampf 1980 proklamiert er die Notwendigkeit einer „geistig-moralischen Wende“ – als er aber ab 1982 regieren kann, zeigt sich, dass seine Persönlichkeit dieser Wende im Wege steht. Seine fünf Kabinette verheddern sich oft im Klein-Klein, seine Minister muss er zeitweise häufig auswechseln, die angestrebte Amnestie für Parteispender und die Flick-Spendenaffäre konterkarieren die moralischen Ambitionen. Generell scheint Kohl Stabilität wichtiger als Innovation, er und damit die Union wirken bräsig.

Kohl, der geniale Staatsmann: Völlig anders als intern agiert Kohl auf internationaler Ebene. Drinnen Zeitlupe, draußen Tempo. Als Gorbatschow die sowjetische Herrschaft über ganz Osteuropa aufgibt und die friedliche Revolution 1989 die Verkrustung in der DDR aufbricht, erkennt Kohl hellsichtiger als viele, welche Chancen das bietet – für die deutsche Wiedervereinigung, für die europäische Einigung, ja für das Überwinden des Kalten Krieges weltweit. Und hier zaudert er nicht, sondern agiert – schnell, mit Risiko, Geschick, Fortune. Sein Zehn-Punkte-Programm als Weg zur Einheit, die Währungsunion, die Integration des vereinten Deutschlands in die Nato, der unglaublich diffizile Balanceakt zwischen Moskau, Washington, Paris und London – 1989 und 1990 gelingt Kohl eine lange Kette politischer Glanzleistungen von Geschichtsbuch-Rang. Ohne Kohls Instinkt, Kraft und Mut wäre Europas Geschichte damals und seither anders verlaufen – und sicher nicht besser.

Kohl, der Irrende: Geradezu tragisch wirkt damals wie heute, wie der Titan gegen Ende seines politischen Wirkens sein Lebenswerk selbst beschädigt. Das System Kohl bekommt in den langen Jahren des Regierens höfische Züge, sein Umfeld mutiert zur Wagenburg. Und Kohl meint gar, sich über von ihm mit unterzeichnete Gesetze stellen zu können: 1999 räumt er ein, von jahrelang geflossenen illegalen Spenden an die CDU gewusst und selbst Millionen entgegengenommen zu haben, ohne dies offiziell zu deklarieren. Bis heute schweigt Kohl sich über die Spender aus – sein „Ehrenwort“ über Recht und Gesetz stellend. Er hat seiner Partei und sich selbst am meisten geschadet.

Kohl, der Mensch: Er hat auf der Zielgeraden seines Schaffens unfreiwillig offenbart, wie sehr auch er schlicht und einfach ein Mensch ist – mit Stärken und Sch wächen. Und egal, wie und wo man politisch steht: Kohl hat es verdient, mit 80 Jahren so gesehen und differenziert gewürdigt zu werden. Trotz und gerade wegen seiner Fehler – vor allem aber wegen seiner unbestreitbaren Verdienste, die er sich für „dieses unser deutsches Vaterland“ erworben hat.

E-Mail an den Autor: Christian.Lindner@Rhein-Zeitung.net