Kohls Weg zur Macht führte über Mainz

Helmut Kohl
Zum Geburtstag von Helmut Kohl: Seine Spuren in Rheinland-Pfalz. Foto: dpa

Rheinland-Pfalz – Kaum vorstellbar: Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit und Herr der schwarzen CDU-Kassen, war einst ein „junger Wilder“ – in seiner Heimat Rheinland-Pfalz. Der Regierungschef war schon sehr lange an der Macht. Die Verflechtung seiner Partei – besser: Verfilzung – mit gesellschaftlichen Gruppen war eng. Im Kabinett saßen solide Regierungsverwalter ohne neue Ideen. Aber draußen rüttelt ein junger Vollblutpolitiker am Gitterzaun: „Ich will da rein!“

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Rheinland-Pfalz – Kaum vorstellbar: Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit und Herr der schwarzen CDU-Kassen, war einst ein „junger Wilder“ – in seiner Heimat Rheinland-Pfalz.

Der Regierungschef war schon sehr lange an der Macht. Die Verflechtung seiner Partei – besser: Verfilzung – mit gesellschaftlichen Gruppen war eng. Im Kabinett saßen solide Regierungsverwalter ohne neue Ideen. Aber draußen rüttelt ein junger Vollblutpolitiker am Gitterzaun: „Ich will da rein!“ Diese Anekdote, zugeschrieben Gerhard Schröder vor seinem Wahlsieg über den „ewigen Kanzler“, könnte sich genauso gut drei Jahrzehnte früher in Mainz abgespielt haben. Damals ist es Helmut Kohl, der am Zaun der Staatskanzlei rüttelt.

Kohls Weg zur Macht führte über Mainz
Heute undenkbar: In seinen Anfangszeiten pendelte Ministerpräsident Helmut Kohl mit dem Zug. Auf dem Foto wartet er am Ludwigshafener Bahnhof.
Foto: Ullstein

Drinnen regiert seit zwei Jahrzehnten Ministerpräsident Peter Altmeier (CDU), Landesvater mit vielen Verdiensten, aber ein Politiker der Nachkriegszeit. Helmut Kohl, aufgewachsen in „stockschwarzer“ katholischer Umgebung in Ludwigshafen, hat mit Mitte 30 schon eine steile Karriere hingelegt: Eintritt in die CDU mit 16, Mitbegründer der Jungen Union in seiner Heimatstadt, mit 24 schon im Bundesvorstand der CDU. Mit 29 Jahren wird er erstmals in den Landtag gewählt. Seine Jungfernrede im Hohen Haus verstolpert der Pfälzer. Seiner Zielstrebigkeit tut das keinen Abbruch. Neben seiner politischen Laufbahn hat er Sozialwissenschaften und Geschichte studiert, seinen Doktor über die neuen Parteien nach 1945 geschrieben, als Referent des Industrieverbandes Chemie in Ludwigshafen gearbeitet. Dort ist er auch im Stadtrat.

In der Jungen Union sammeln sich um Kohl die Aufmüpfigen. Die Adenauer-Union der 1960er-Jahre verspotten sie als „Kalkwerk“. Ein Symbol: Wenn Altmeier erscheint, müssen die Landtagsabgeordneten aufstehen.

Im Jahr 1969 ist es so weit: Mit 38 Jahren löst Helmut Kohl Altmeier als Ministerpräsident ab, mitten in der Wahlperiode. Zuvor hat er als Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag die Regierungsarbeit entscheidend beeinflusst. „Das Wirken von Kohl zum Ende der Ära Altmeier hat einen Reformprozess in der CDU in Gang gesetzt, sodass sie 20 Jahre länger regieren konnte“, sagt heute Kohls Mainzer Parteifreund Johannes Gerster. „Sonst wäre die Reform durch Abwahl und Regierungswechsel gekommen.“

Kohl helfen seine enorme Belastbarkeit, ein ungeheurer Fleiß im Knüpfen von Kontakten und sein Gespür für fähige Leute. Er macht Bernhard Vogel, einen Studienfreund aus Heidelberger Tagen, zum Kultusminister, und als Sozialminister kommt Heiner Geißler, den er wohl aus der Jungen Union kennt. Finanzminister Johann Wilhelm Gaddum wirkt auch auf Bundesebene an Finanz- und Steuerreformen mit. Roman Herzog, der spätere Bundespräsident, vertritt das Land in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Kohls Ministerrat gilt als das dynamischste Landeskabinett der Bundesrepublik. Mit ihm treibt er die Modernisierung voran. Kohl ringt den Kirchen die Abschaffung des streng nach „katholisch“ und „evangelisch“ getrennten Schulunterrichts ab und führt die Gemeinschaftsschule ein. Die Wirtschaft im „Land der Reben und Rüben“ erhält einen Schub durch den Ausbau von Fernstraßen. Geißler schreibt das bundesweit erste Kindergartengesetz, die ersten Sozialstationen entstehen.

Eine Verwaltungsreform krempelt die kommunale Landschaft um. Aus 39 Landkreisen werden 24. Tausende Dörfer werden in 163 neuen „Verbandsgemeinden“ zusammengefasst. Der Kraftakt gelingt nur, weil Kohl im sogenannten „Pfeifenkabinett“ den Dialog mit den führenden SPD-Köpfen Jockel Fuchs und Karl Thorwirt pflegt.

„Kohl verbreitete in Rheinland-Pfalz ein ähnliche Aufbruchstimmung wie wenige Monate später der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt“, urteilt der Mainzer Geschichtsprofessor Michael Kißener. Nicht minder wichtig: Kohl steht für einen neuen Politikertypus. Er gibt sich nahbar. Viele Bürger erkennen sich wieder in dem wenig redegewandten, aber tatkräftigen Pfälzer mit der beeindruckenden Statur. Der Lohn ist die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl 1971. Privat bezieht Kohl in diesem Jahr mit seiner Familie das neu gebaute Haus in Ludwigshafen-Oggersheim.

Doch sein Blick richtet sich immer stärker nach Bonn. 1973 wird Kohl im zweiten Anlauf CDU-Bundesvorsitzender. 1976 nimmt er Abschied von Mainz, um Oppositionsführer im Bundestag zu werden – nicht leichten Herzens, wie er bekennt. Aber die Neigung sei gewachsen, „mein Lebensschiff aus dem sicheren Hafen in stürmische See hinauszusteuern“.

Claudia Renner