Berlin/Warschau

Vor 40 Jahren: Versöhnung begann mit dem Kniefall

Gerade noch stehen die Zuschauer unbewegt am Rand und blicken ohne große Erwartung auf den deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Er schreitet auf das Mahnmal Getto zu und legt einen Kranz nieder. Er zupft die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht und tritt vier Schritte zurück. Dann fällt er auf die Knie und verharrt etwa 30 Sekunden.

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Berlin/Warschau. Gerade noch stehen die Zuschauer unbewegt am Rand und blicken ohne große Erwartung auf den deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Er schreitet auf das Mahnmal Getto zu und legt einen Kranz nieder. Er zupft die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht und tritt vier Schritte zurück. Dann fällt er auf die Knie und verharrt etwa 30 Sekunden.

Das Bild des knienden Kanzlers vom 7. Dezember 1970 ist um die Welt gegangen. Das Bild schrieb Geschichte und leitete symbolisch die Entspannungspolitik mit dem Osten ein. Doch die Geste der Demut entfaltete ihre Wirkung erst nach und nach. Bei den damaligen kommunistischen Machthabern in Polen hinterließ Brandt zunächst Verwunderung. Auch die unmittelbare Berichterstattung und die internen internationalen Regierungsdokumente beschäftigten sich mehr mit dem Warschauer Vertrag, den Brandt am selben Tag unterzeichnet hatte. Dieser Vertrag besiegelte die Anerkennung der polnischen Westgrenze.

Zehntausende Juden ermordet

Das Mahnmal, vor dem Brandt niederkniete, erinnert an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Dort hatten die Nazis ursprünglich rund 500 000 Juden auf engstem Raum zusammengepfercht. Ab dem 19. April 1943 erhob sich eine Gruppe von rund 1500 Kämpfern, die weitere Deportationen von Juden verhindern wollte. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Allein im April und Mai des Jahres 1943 starben im Warschauer Getto etwa 56 000 Juden.

In einer Blitzumfrage zum Kniefall, die der „Spiegel“ damals veröffentlichte, meinten nur 41 Prozent der Deutschen, die Geste sei angemessen gewesen, 48 Prozent der Befragten empfanden sie als übertrieben.

Bis heute beschäftigt die Geschichtsschreibung, ob Brandts Kniefall eine spontane Tat oder lange vorher geplant war. Er selbst schrieb dazu in seinen Erinnerungen: „Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht.“ Brandt räumte aber ein, er habe schon auf dem Weg zum Mahnmal das Gefühl gehabt, die „Besonderheit des Gedenkens“ zum Ausdruck bringen zu müssen.

„Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Seinem engsten Vertrauten, dem Staatssekretär im Kanzleramt, Egon Bahr, gestand Brandt am Abend: „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht.“

Die DDR-Führung erkannte offenbar spontan, welch versöhnliche Kraft hinter dem Kniefall stand. In der offiziellen Berichterstattung zur Unterzeichnung des Vertrags ließen die SED-Genossen die Geste unerwähnt.

Polens erster Botschafter im wiedervereinigten Deutschland, Janusz Reiter, würdigte Brandt im Nachhinein: „Wir neigen heute sehr stark dazu, das Jahr 1989 als Beginn unserer politischen Neuzeit zu betrachten. Aber im politischen Sinn, wenn man den Blick etwas weiter öffnet, dann war das Jahr 1970 die Wende im deutsch-polnischen Verhältnis.“

1971 erhielt Willy Brandt für seine Ostpolitik, die zur Entspannung der beiden verfeindeten Blöcke in Ost und West beigetragen hat, den Friedensnobelpreis.

Brandts Kniefall schuf „das Bild vom wirklich neuen, besseren, menschlichen Deutschland“

Langfristig, so meinen die Historiker Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher, , nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig“. Sie stellen zudem die These auf, dass Brandts Kniefall einer Verbesserung der deutsch-israelischen Beziehungen dienen sollte.

In der Heimat wüst beschimpft

Innenpolitisch führten Brandts Kniefall und seine Ostpolitik zu schweren politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Bezeichnung des „Vaterlandsverräters“ gehörte da zu den harmloseren Beschimpfungen.

Der Kniefall als politisches Symbol, wie ihn Brandt zeigte, ist bislang einzigartig. Keine weitere große Geste hat eine derartige politische Wirkung entfaltet. Es gibt kaum ein modernes Geschichtsbuch, das sich mit der deutschen Nachkriegsära befasst, in dem nicht ein Foto von Brandts Kniefall abgebildet ist.

Kohl versuchte ähnliche symbolische Geste

Eine vergleichbare Geste versuchte Helmut Kohl 1984 mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand. Damals reichte er ihm über dem deutsch-französischen Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in Verdun die Hand. Kohl wurde kritisiert, er habe sich zu sehr um diese Geste bemüht. Damals wusste er noch nicht, dass er als Kanzler der Einheit ohnehin einen sicheren Platz in den Geschichtsbüchern bekommen würde.

Von unserer Berliner Korrespondentin Eva Quadbeck