Niedersachsen: Durchatmen statt Feierlaune

Anstoßen ja, aber erst einmal nur mit Selters statt mit Sekt: Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (rechts) und SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil prosten sich am Wahlabend zu.
Anstoßen ja, aber erst einmal nur mit Selters statt mit Sekt: Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (rechts) und SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil prosten sich am Wahlabend zu. Foto: DPA

Berlin/Hannover. Jubel bei der FDP, Aufatmen bei der SPD, Ratlosigkeit bei der CDU – der Wahlabend in Berlin verlief für viele überraschend. Einen wirklichen Sieger zu feiern gab es nirgends. Im Thomas-Dehler-Haus, der Parteizentrale der FDP in Berlin, will um kurz nach 18 Uhr der Jubel kein Ende nehmen.

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Berlin/Hannover – Jubel bei der FDP, Aufatmen bei der SPD, Ratlosigkeit bei der CDU – der Wahlabend in Berlin verlief für viele überraschend. Einen wirklichen Sieger zu feiern gab es nirgends. Im Thomas-Dehler-Haus, der Parteizentrale der FDP in Berlin, will um kurz nach 18 Uhr der Jubel kein Ende nehmen.

Die FDP liegt fast im zweistelligen Bereich: Ein gelber Balken mit der Ziffer 10 blinkt auf den Bildschirmen der Fernsehsender. Die totgesagten Liberalen und ihr kriselnder Parteichef Philipp Rösler haben sich mit einem Sieg – tatkräftig unterstützt von gönnerhaften CDU-Wählern – vor dem politischen Abgrund gerettet. Für den aus Niedersachsen stammenden Philipp Rösler ist es ein seltener Triumph.

Als er um 19 Uhr vor die Kameras tritt, gibt sich Rösler entsprechend selbstbewusst: „Jetzt geht das Rennen erst los“, sagt er mit Blick auf die Bundestagswahl. Eine Kampfansage an die parteiinternen Kritiker. Doch einige Präsidiumsmitglieder sehen das anders, nehmen die Zahlen aus Niedersachsen hinter den Türen eher mit „stiller Freude“ auf, berichtet ein Teilnehmer. Der Kontrast belegt: Der Machtkampf ist nicht vorbei, und so schicken beide Lager wenige Minuten nach der ersten Hochrechnung ihre Protagonisten in den Saal, um die Deutung über die Prozente mitzubestimmen. Philipp Röslers Sieg ist nur ein halber. Im Bund stehen die Liberalen weiterhin bei 3 bis 4 Prozent. Die Analyse einiger Führungsmitglieder lautet daher: Rösler könne den Rückenwind aus seiner Heimat nur nutzen, wenn er seine Macht teile: Es wird erwartet, dass Rösler in den Gremiensitzungen am heutigen Montag die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl dem kraftvollen und zuletzt von der Basis gefeierten Fraktionschef Rainer Brüderle anbietet. Der hatte mit seiner Forderung nach einem vorgezogenen Parteitag einen Tag vor der Wahl zwar für Stirnrunzeln in der Partei gesorgt, gilt aber als einzig legitimer Nachfolger Röslers.

Aufatmen dagegen in der SPD-Parteizentrale. Schon kurz nach 18 Uhr haben die Parteioberen aus dem sechsten Stock – unter anderem sind dort Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und Fraktionschef Frank- Walter Steinmeier bei Buletten und Bier vor den Bildschirmen zusammengekommen – per SMS die Marschroute an Mitstreiter ausgegeben: „Rücken gerade, alles noch einmal gut gegangen.“ Mit rund 33 Prozent hat die SPD in Niedersachsen offenbar die Stolpereien ihres Kandidaten Peer Steinbrück gut verkraftet. Die Umfragen waren in den vergangenen Monaten nie oberhalb der 33-Prozent-Marke. Ein negativer Steinbrück-Effekt lässt sich aus den Prognosen jedenfalls nicht ablesen.

Eine Verliererin sitzt am Wahlabend allerdings im Kanzleramt: Angela Merkel. Die CDU in Niedersachsen ist von fast 42 Prozent in den Umfragen durch die massive FDP-Hilfskampagne auf 36 Prozent zusammengeschnurrt. Im Konrad-Adenauer-Haus herrscht deshalb Ratlosigkeit. Bei derber niedersächsischer Pinkelwurst mit Kartoffelsalat haben die Christdemokraten sich kurz vor 18 Uhr noch siegesgewiss gegeben. Die Parteizentrale verteilt „I’m a Mac“- Schilder zum Jubeln für David McAllister.

Doch als der Balken auf dem Bildschirm nur auf 36,5 Prozent anwächst, bleibt es still und die Schilder unten. Beifall brandet auf, als das FDP-Ergebnis von 9,5 Prozent bekannt wird. Doch dann herrscht wieder Stille. Reicht es? Reicht es nicht? Erst allmählich dämmert es den Christdemokraten, die so zahlreich wie selten bei einer Landtagswahl in die Berliner Parteizentrale gekommen sind: Die Zweitstimmenkampagne für die FDP ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Die CDU bleibt mehr als 5 Prozent hinter den Erwartungen. Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer ist einer der Ersten, die versuchen, das Ergebnis zu erklären. Die CDU-Wähler seien bei der Unterstützung der FDP „wohl etwas übereifrig gewesen“.

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Aber: „Die bürgerliche Koalition ist klar bestätigt worden.“ Um kurz nach 18 Uhr rechnen alle damit, dass es eine lange Rechennacht wird. Ein CDU-Bürgermeister aus Baden- Württemberg meint dagegen pragmatisch: „Wenn es so bleibt, dann sollten die Schwarz-Grün machen.“ Im Südwesten könnte man sich solche Konstellationen sehr gut vorstellen.

Auch CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sieht nicht wie ein Wahlsieger aus, als er um kurz nach halb sieben vor die Kameras tritt. „Es ist erkennbar, dass das Stimmen-Splitting eine große Rolle gespielt hat“, sagt er vorsichtig in Richtung FDP. Er deute das Ergebnis jedenfalls so, dass die Niedersachsen das christlich-liberale Regierungsbündnis behalten wollten. Gröhe spricht von einer „Aufholjagd“, die gelungen sei. Doch das Konrad-Adenauer-Haus wird rasch leerer. So richtig zum Feiern zumute ist hier niemandem. Alle wissen auch hier, dass die Abstimmung in Niedersachsen zur kleinen Bundestagswahl erklärt worden war. Der Wahlkampf im Land im Norden hat gezeigt, wie rasch die Stimmung drehen kann.

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Von unseren Berliner Korrespondenten Rena Lehmann,

Gregor Mayntz und

Michael Bröcker