RZ-Kommentar: Gaucks historischer Moment wird noch kommen

Wer US-Politikexperten nach einem deutschen Pendant zu Barack Obama fragt, der bekommt oft zwei Namen genannt: Karl-Theodor zu Guttenberg und Joachim Gauck. Beide eignen sich ideal als Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und Erwartungen. Der eine wurde längst entzaubert – nicht nur weil bei Guttenberg der glamouröse Schein stets vom mickrigen Sein in den Schatten gestellt wurde.

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Vor allem scheint den Bürgern in der Krise eher der Sinn nach der nüchtern- pragmatischen Art einer Angela Merkel zu stehen. Ist der Obama-Typus in der deutschen Politik also derzeit offenbar unerwünscht, so scheint er im höchsten Amt im Staate noch eine große Wirkkraft zu entfalten. Das Phänomen Gauck ist schwer greifbar.

Am ehesten stillt er wohl das Bedürfnis vieler Deutscher nach einem von der Politik entfernten Bürgerpräsidenten – nach dem dreisten Schnäppchenjäger Christian Wulff. Wie bei Obama schwingen auch bei Gauck eine große Aura und ein riesiger Erwartungshorizont mit. Man erwartet Neues, Unerwartetes, große Worte und Gesten von dem früheren Pastor aus Rostock, vom Bürgerbewegten, vom Freiheitskämpfer. Doch natürlich ist dies Gaucks wie auch Obamas größtes Handicap: Beide werden die in sie gesetzten Erwartungen nie erfüllen können.

Die Amerikaner hat dies nicht davon abgehalten, den Demokraten wiederzuwählen. Zu groß war die Hoffnung, dass Obama noch irgendetwas Bahnbrechendes hinterlassen wird. Und auch bei Gauck zeigen die hohen Zustimmungswerte im Volk, dass die Bürger überzeugt sind, dass dieser Bundespräsident etwas Wegweisendes sagen wird, wenn sich dafür eine Gelegenheit ergibt.

Sie wird kommen, und er wird sie ergreifen. Diesen Moment wie etwa bei der völlig verpufften Europa- Rede zu erzwingen, ist nicht Gaucks Stärke. Er ist der Mann für diesen einen historischen Moment, vielleicht sogar zwei Augenblicke. Bis dahin ist er ein Präsident für die Bürger.

Wer ihn einmal persönlich erlebt hat, der weiß, wie einfühlsam er im Umgang mit Menschen sein kann. Das sind kleine Gesten, große Worte im Kleinen. Doch wie bei Obama sind es mehr als Worte, es sind Symbole: Wenn Gerhard Schröder und Angela Merkel die deutsche Politik in die Welt des 21. Jahrhunderts geführt haben, dann könnte Joachim Gauck dies auf gesellschaftlicher Ebene gelingen.

Man betrachte nur seine von Konservativen verpönte Patchwork-Familie. Bei jeder Reise wird diese gesellschaftlich längst weitverbreitete Konstellation durch das Beisein Daniela Schadts offensichtlich. Diese Rolle als Modernisierer bringt Gauck nicht nur Beifall ein. Aber es ist gut, dass er Deutschland so zum Nachdenken über sich bringt.

E-Mail: christian.kunst@rhein-zeitung.net