Teilchenphysik: Die Suche nach der Tür ins dunkle Universum

Wieso existieren wir? Was kommt nach unserer Welt? Wissenschaftler am Forschungszentrum Cern suchen Antworten auf Menschheitsfragen – Teilchen für Teilchen. Ihr Arbeitsgerät heißt LHC (Large Hadron Collider) oder einfach die Weltmaschine.

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Von Thomas Burmeister

Mit Leichenaugen lässt sich die Monstermaschine nicht überlisten. Dan Brown hat das nicht gewusst oder ignoriert. In seinem Thriller „Illuminati“ kann der Dieb einer Portion Antimaterie das Sicherheitssystem des Europäischen Kernforschungszentrums Cern mit dem ausgestochenen Auge eines Wissenschaftlers austricksen. Das wirkliche Leben ist anders:

„Schauen Sie“, sagt Christoph Rembser und schiebt sein Gesicht dicht vor den Augenscanner. „Der scannt und sendet zugleich Lichtsignale. Die Pupillen müssen reagieren, tot könnten sie das nicht.“ Die Augen des Bonner Physikers öffnen uns ein Tor zum LHC, dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Er ist die Wiege des Higgs- Teilchens, des berühmtesten Bausteins im Standardmodell der Materie.

Jenes Teilchens, dessen Vorhersage durch den Belgier François Englert und den Briten Peter Higgs im vergangenen Jahr mit dem Nobelpreis für Physik geehrt wurde. Es ist das Teilchen, dem wir nach Überzeugung Tausender Atomphysiker unsere Existenz verdanken. Menschen wie Tiere und Pflanzen, wie alles, was es in und um uns herum gibt.

Denn nur das Higgs-Teilchen soll allen anderen überhaupt erst eine Masse verleihen, ohne die sie lediglich end- und nutzlos mit Lichtgeschwindigkeit durchs All schwirren würden. Was mangels Masse nie Halt findet, kann auch keine Partnerschaft mit anderen Teilchen eingehen, kann sich nie zu einem Atomkern entwickeln. Teilchenphysik ist überaus spannend, wenn Forscher sich die Zeit nehmen, sie Laien zu erklären. So entstand wohl auch der Kosename Weltmaschine.

Treffend ist er: Etwa 10 000 Wissenschaftler aus aller Welt sind mit den Cern-Experimenten beschäftigt. Und das Kernstück, der Beschleuniger LHC, ist die größte, je auf der Erde gebaute Maschine. Wobei sich der LHC, genau genommen, vor allem unter der Erde befindet. Bis zu 150 Meter tief, im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, nördlich des Genfer Sees bis zu den Ausläufern des französischen Jura erstreckt sich sein kreisrunder Tunnel.

Auf einer Länge von 27 Kilometern. Was Physiker, Ingenieure und Techniker in dieser Riesenröhre veranstalten, ist nichts anderes als die Inszenierung des Urknalls, der Entstehung von Materie, Raum und Zeit. Warum gibt es unsere Welt? Wie ist alles entstanden? Wie entwickelt sich unser Universum? Und was kommt danach?

Um Antworten auf solche Menschheitsfragen zu finden, beobachten die Forscher die kleinsten Bausteine des Daseins, die Elementarteilchen. „Was uns interessiert – die Spielregeln der Natur –, geschieht auf einem Bruchteil eines Millimeters“, sagt Cern-Forscher Rembser. Und es geschieht nur, wenn man die klitzekleinen Teilchen auf Trab bringt: Im Vakuum des LHC, das in etwa dem des Weltalls entspricht, werden Milliarden von vorher erzeugten Teilchen der gleichen Sorte mit nahezu Lichtgeschwindigkeit in zwei Strahlen frontal aufeinander losgejagt.

Jeder Strahl hat etwa so viel Energie, wie ein Auto sie bei 1600 km/h hätte. Bei den Teilchenkarambolagen entstehen ganze Regen von Folgeteilchen. Die Physiker vermessen, vergleichen und analysieren sie, um neuen Phänomenen der Materie auf die Spur zu kommen. Der Beschleuniger wäre nur eine riesige Teilchenrennstrecke, würde der Ring nicht durch vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser führen. Sie heißen Atlas, Alice, CMS und LHCb und beherbergen die Experimente.

Dabei ist Atlas – Kurzform für „A Toroidal LHC Apparatus“ – eine der begehrtesten Spielwiesen für alle Experimentalphysiker. Ungefähr halb so groß wie die Kathedrale Notre-Dame in Paris, würde der Bau von außen ohne seine Wandbemalung einer nüchternen Fabrikhalle gleichen. Innen glaubt man in einer Megaturbine aus Tausenden von Röhren, Kabeln, Spulen, Klappen, Schrauben und Gestängen zu stehen, die verbunden sind durch unzählige Treppenstufen.

Atlas hat mehr Einzelteile als ein Airbus A 380 und beschäftigt mehr Menschen als so manche Fluggesellschaft: Rund 3000 Wissenschaftler in 38 Staaten sind in die Auswertung der von Atlas gelieferten Daten einbezogen. Auch Rembser arbeitet am Atlas-Projekt, das maßgeblich an der Entdeckung des Higgs-Teilchens im vergangenen Sommer beteiligt war.

Der Atlas-Detektor lieferte Bilddaten der Ergebnisse von Kollisionen in unvorstellbaren Mengen: rund 20 Millionen Kollisionsbilder pro Sekunde. Das ist datenmengenmäßig ungefähr so, als würde jeder Erdenbürger zur selben Zeit 80 Telefongespräche auf einmal führen. Cern kann das nicht verkraften, deshalb werden die Daten auf Rechenzentren in der ganzen Welt verteilt.

Auch in Deutschland, wo allein mehr als 1000 Wissenschaftler von 21 Universitäten und Instituten an LHC-Experimenten beteiligt sind. Deutschlands Steuerzahler bringen 20 Prozent des Cern-Budgets von jährlich etwa 800 Millionen Euro auf. Dabei liegt es in der Natur jeder Grundlagenforschung, dass Fragen nach ihrem Nutzen für den Normalverbraucher nicht ganz leicht zu beantworten sind.

Die bislang größte weltweite Aufmerksamkeit erlangte das Cern 2012 mit dem Nachweis eines Teilchens mit Higgs-Eigenschaften. Die Entdeckung beflügelte die Fantasie von Millionen. Benannt nach dem britischen Physiker Peter Higgs (84), der es 1964 vorhersagte – und dafür 2013 den Nobelpreis bekam –, komplettiert das Teilchen das Standardmodell des Aufbaus der Materie.

Die ist freilich nur die bisher einigermaßen bekannte Welt. Größere Rätsel birgt die unbekannte Welt: „Wir wissen nur etwas über einen kleinen Teil des Universums, mehr als 80 Prozent sind Dunkle Materie, geheimnisvoll und mysteriös“, sagt Rembser. Wie viele seiner Kollegen will auch er sich bald ganz auf die Suche nach der Dunklen Materie konzentrieren.

Sie wollen wissen, wieso Galaxien durch das All fliegen, obwohl die Sterne darin zu wenig Schwerkraft haben, um derart riesige Gebilde zusammenzuhalten. Sie fragen, weshalb sich die spiralförmigen Arme unserer Galaxie schneller drehen, als sich mit der Anziehungskraft der sichtbaren Materie erklären lässt. Erkennbar könnte Dunkle Materie werden, wenn zwei ihrer Teilchen zusammenkrachen.

Sie würden sich dabei zwar gegenseitig auslöschen, aber aus der freigesetzten Energie könnten Positronen entstehen – die Antiteilchen zu negativ geladenen Elektronen. Davon geht jedenfalls die Supersymmetrie aus, die wohl ambitionierteste aller Physiker-Theorien zur Erweiterung des bisherigen Weltmodells. „Ich bin sicher, dass wir eines Tages Dunkle Materie finden“, sagt Rembser. Auch dafür wird die Weltmaschine derzeit aufgerüstet. Seit knapp einem Jahr steht sie still.

Techniker sind in der LHC-Röhre damit beschäftigt, mehr als 10 000 Hochstromverbindungen zwischen supraleitenden Magneten zu erneuern. Mit einer Stärke von acht Tesla, die dem 50 000- fachen des natürlichen Magnetfeldes der Erde entspricht, müssen diese Magneten der Fliehkraft der rasenden Teilchen entgegenwirken, um sie auf der Ringbahn zu halten. In der Renovierungspause – genannt Long Shutdown 1 – werden auch fast 1700 Verbindungen zwischen diesen Supermagneten geöffnet und mehrere dieser Magneten gegen neue, noch leistungsstärkere ausgetauscht.

Hunderte zusätzliche Druckventile werden installiert. Und die Detektoren bekommen ein umfangreiches Upgrade. Laut Plan dauert das alles bis Anfang 2015. Dann wird den Forschern praktisch eine neue Weltmaschine mit deutlich mehr Leistung zur Verfügung stehen. Die Energie, mit der dann Teilchen im Beschleunigerring kollidieren, wird sich von 7 auf 14 TeV (Teraelektronenvolt) verdoppeln.