Warnungen vor Katastrophen: So funktionieren die „Postwurfsendungen“ für Handys

Von Jan Drebes
Es könnte so einfach sein: Beim sogenannten Cell Broadcast erhalten alle Mobiltelefone, die sich im Einzugsbereich eines Handymastes befinden, im Katastrophenfall eine SMS-ähnliche Textnachricht.  Foto: Imago
Es könnte so einfach sein: Beim sogenannten Cell Broadcast erhalten alle Mobiltelefone, die sich im Einzugsbereich eines Handymastes befinden, im Katastrophenfall eine SMS-ähnliche Textnachricht. Foto: Imago

Plötzlich reden alle von Cell Broadcast, als sei das eine neue Erfindung. Dabei gibt es diese Informationstechnik schon seit 1999. Sie gehört zum Mobilfunkstandard und bedeutet, dass Textnachrichten an alle Handys verschickt werden, die an einem Funkmast angemeldet sind, ähnlich wie eine Postwurfsendung in allen Briefkästen landet. Viele Länder setzen diese Technik in Verbindung mit Warnsystemen bereits seit Jahren erfolgreich ein, in Deutschland wird sie bislang nicht dazu verwendet. Doch die Flutkatastrophe soll ihr nun auch in Deutschland zum Durchbruch verhelfen. Politischen Widerstand gibt es nicht mehr, dennoch könnte die Umsetzung bis 2022 dauern.

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Experten sind sicher: Hätte es vor der Flutkatastrophe in Deutschland ein auf Cell Broadcast basierendes Warnsystem gegeben, wären viele Todesopfer vermieden worden. Daher gibt es jetzt breite Unterstützung für diese Technik.

Wie funktioniert Cell Broadcast?

Der Begriff meint den automatisierten Versand von Textnachrichten, die auf dem Handy einer SMS ähneln. So kann damit der Katastrophenschutz automatisch an alle Geräte mit Mobilfunkempfang innerhalb einer bestimmten Region Warnungen zukommen lassen. Das Gebiet wird anhand der verfügbaren Funkmasten eingegrenzt. Alle Menschen, die sich in dieser Funkzelle befinden, bekommen binnen Sekunden die Nachricht auf ihr Handy geschickt. Das funktioniert auch noch, wenn ansonsten das Funknetz überlastet ist. Maximal stehen 1395 Zeichen für die Botschaften zur Verfügung, auch einen Warnton kann das Handy damit verknüpfen.

Welche Vor- und Nachteile hat es gegenüber Warn-Apps?

Die Vorteile sind, dass auch alte Mobiltelefone die Warnhinweise empfangen können. Die Technik ist bereits seit Jahrzehnten erprobt, alle gängigen Geräte sind dafür ausgelegt. Es sind also weder Smartphones noch Apps nötig, um die Warnung zu erhalten. Der Nachteil ist lediglich, dass mit der Nachricht keine Audio- oder Bilddateien versendet werden können. Die Warnung erscheint auf dem Startbildschirm der Geräte, in manchen Handys muss der Empfang von Cell-Broadcast-Nachrichten in den Geräteeinstellungen aktiviert werden. Nach Angaben des IT-Branchenverbandes Bitkom verfügen 12 Prozent der Deutschen über kein Handy. Sie müssen auch künftig über den Rundfunk, Sirenen und Lautsprecherdurchsagen der Einsatzkräfte gewarnt werden.

Wie steht es um den Datenschutz?

Weil die Nachricht automatisch an alle Rufnummern in der jeweiligen Funkzelle verschickt und keine Empfangsbestätigung zurückgeschickt wird, bleiben die Empfänger anonym. Die Nachricht wird wie ein Radiosignal gesendet, das unterscheidet Cell Broadcast maßgeblich von zielgerichteten SMS. Die Behörden und Mobilfunkunternehmen haben damit keine Kenntnis über den Empfängerkreis, Datenschützer sehen die Technik entsprechend unkritisch.

Warum gibt es die Technik bislang nicht in Deutschland?

Die EU hatte zwar vorgeschrieben, dass bis 2022 alle Mitgliedstaaten über ein Warnsystem verfügen müssen, Deutschland und andere Staaten setzten sich bei der europäischen Regelung aber für Technologieoffenheit ein. Cell Broadcasting wurde nicht vorgeschrieben, stattdessen setzte die Bundesregierung bislang auf einen Mix aus Sirenen und offiziellen Warn-Apps wie Nina und Katwarn.

Bis wann ist mit einer Einführung zu rechnen?

Der politische Widerstand ist spätestens seit der Flutkatastrophe in sich zusammengefallen. Auch das Bundeswirtschaftsministerium teilte nun auf Anfrage mit, es würde die Einführung begrüßen. Zuständig ist Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er kündigte eine Einführung noch in diesem Jahr an, die Umsetzung dürfte aber bis zum kommenden Jahr dauern. Schließlich müssten die Mobilfunknetze noch für die Technik freigeschaltet werden, eine gesetzliche Grundlage fehlt bislang. Kommt die bis zur Wahl, halten Experten den Einsatz ab Sommer 2022 für realistisch.

Was kostet das?

Die Nutzer müssen für den Empfang der Warnhinweise nichts bezahlen, sie sind wie die offiziellen Warn-Apps kostenlos. Doch die Einrichtung des Systems und der Unterhalt kosten Geld. In der Politik heißt es, die Mobilfunkanbieter hätten die Startinvestitionen auf etwa 20 Millionen Euro und die jährlichen Kosten auf etwa 10 Millionen Euro beziffert. Die Mobilfunkbetreiber in der Bundesrepublik – Deutsche Telekom, Vodafone Deutschland und Telefonica Deutschland – wollen sich zu den Kosten offiziell frühestens äußern, wenn eine Ausschreibung vorliegt. Gespräche der Mobilfunkfirmen mit den zuständigen Behörden über den Einbau und die Ausgestaltung der Cell-Broadcasting-Technologie für Warnnachrichten laufen.

Was sind die nächsten Schritte?

Das Bundesinnenministerium prüft derzeit, ob und unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen eine verpflichtende Einführung der Cell-Broadcast-Technik erfolgen kann. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hatte im April bereits eine Machbarkeitsstudie beauftragt, die unterstreichen soll, dass Warnmeldungen damit in Deutschland möglich und sinnvoll sind. Das Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums prüft, ob Aufträge zur technischen Einrichtung europaweit ausgeschrieben werden müssten. Auch die beim Wirtschaftsministerium angesiedelte Bundesnetzagentur ist im Boot, wenn es um die Festlegung technischer Details geht. Jan Drebes

Kommentar von Jochen Magnus zu „Cell Broadcast“: Halte es einfach und idiotensicher!

Keep it simple and stupid. Das ist das KISS-Prinzip der Ingenieure. Es fordert, zu einem Problem eine möglichst einfache und verständliche Lösung zu finden. Genauso arbeiten Cell Broadcasts. Sie sind kein Hexenwerk, es ist vielmehr eine mehr als 20 Jahre alte, erprobte, einfache Technik. Eben, weil sie schlicht ist, arbeitet sie robust und zuverlässig. Ideal für Warnungen und Handlungsanweisungen im Krisenfall.

Für Techniker ist Cell Broadcasting eine „olle Kamelle“. Es ist einfach nur ein Rundfunk über das Mobilfunknetz und in sämtlichen alten und aktuellen Technikstandards von 2G bis 5G vorgesehen. Daher darf man erwarten, dass Telekom, Vodafone und andere sie in Windeseile zur Ausstrahlung bringen können. Nicht mal Datenschutzbedenken kommen auf, denn es ist die einseitige Aussendung von Nachrichten an alle, die mit dem Funknetz verbunden sind – es gibt keine Rückmeldung.

Ob das Handy eingeschaltet ist, es klingelt oder summt, bleibt allerdings den Benutzern überlassen, darauf hat der Sender keinen Einfluss. Diese Technik aus der Gründerzeit des Mobilfunks wurde in Deutschland nicht mehr genutzt, weil sie altmodisch ist: Weder bunte Bilder noch Töne können damit übertragen werden, nur Text. Das gilt heute nicht mehr als sexy. Doch gerade weil dieser Mobilrundfunk so einfach ist, funktioniert er so zuverlässig, sogar im lahmsten Netz, beinahe ohne Empfang und auch ganz ohne LTE.

Daraus kann man lernen. Im Krisenfall funktionieren meist nur robuste Techniken: der gute alte Funk, auch der CB-Funk, oder Tonsignale aus Sirenen beispielsweise. Natürlich braucht es immer elektrischen Strom. Im Ahrtal war der ausgefallen, ganze Mobil- und Behördenfunkeinrichtungen waren weggespült worden. Künftig muss also gewährleistet werden, dass zumindest einige Funkstationen sichere Standorte erhalten, auf dem Hügel, mit sicheren, mehrfachen Leitungs- oder Richtfunkanbindungen und dort auch für viele Stunden und Tage Notstrom zur Verfügung steht. Das wäre dann wirklich „Technik, die begeistert“: weil sie Leben retten kann.

E-Mail: jochen.magnus@rhein-zeitung.net

Flutkatastrophe im Ahrtal
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