Karlsruhe

Wahlrecht ist selbst für Spezialisten schwere Kost

Das neue Wahlrecht ist so kompliziert, dass es auch Experten an den Rand der Verzweiflung bringt. Aber ist es auch rechtswidrig? Manche Politiker wünschen sich, dass die Verfassungsrichter gleich selbst ein neues Wahlrecht verfassen.

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Nach mehr als drei Stunden Verhandlung zum Wahlrecht, mitten in den Feinheiten der „Reststimmenverwertung“, bekam die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff einen Lachanfall. „Mich interessiert noch der Satz zwei“, fing sie an, dann konnte sie nicht mehr weitersprechen. „Die Komplexität der Materie hat doch etwas Humoristisches“, sprang Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ihr bei, durchaus selbst schmunzelnd.

Denn das ist eines der Probleme mit dem neuen Wahlrecht, das seit 2011 gilt: Wie aus den abgegebenen Stimmen die Sitze der Abgeordneten errechnet werden, ist so kompliziert, dass selbst Spezialisten kaum mitkommen.

Man kann die Sache aber auch einfacher sehen – politisch. 2008 hatten die Karlsruher Richter das Wahlrecht auf Bundesebene für teilweise verfassungswidrig erklärt. Grund war das „negative Stimmgewicht“, in der Expertenszene auch NSG genannt – das ist der Fachbegriff für den absurden Effekt, dass unter bestimmten Umständen die Abgabe einer Zweitstimme für eine Partei bedeuten konnte, dass die Partei aufgrund der Verbindung von Landeslisten am Ende weniger Mandate im Bundestag bekam.

Das musste nach den Karlsruher Vorgaben repariert werden, und weil die Materie schon immer etwas kompliziert war, setzten die Richter eine großzügige Frist von drei Jahren. Die Parteien im Bundestag schafften es aber nicht, sich auf ein gemeinsames Modell zu einigen – und am Ende setzten die Koalitionsfraktionen mit Verspätung das neue Wahlrecht im Alleingang durch.

Ein Verfahren, das Voßkuhle so deutlich kritisierte, wie es einem Gerichtspräsidenten gerade noch möglich ist: Es wäre „Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen.“

Das scheiterte jedoch vor allem daran, dass das Wahlrecht entscheidende Auswirkungen auf die künftige Machtverteilung haben kann. Zentraler Streitpunkt sind die Überhangmandate. Sie können entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnt, als ihrem Anteil an Zweitstimmen entspricht. Davon profitieren tendenziell die großen Parteien – 2009 gab es 24 Überhangmandate, und alle kamen CDU und CSU zugute. Diesen Teil des Wahlrechts wollte die Union möglichst nicht antasten.

Heraus kam ein System, bei dem auf bundesweite Listenverbindungen verzichtet wird. Stattdessen wird die Abgeordnetenzahl jeweils getrennt in den Bundesländern ermittelt. Um dabei auftretende Abrundungsverluste wieder auszugleichen, werden weitere Zusatzmandate vergeben – im Rahmen der „Reststimmenverwertung“, deren Details die erfahrene Richterin Lübbe-Wolff zum Lachen brachten und für die der Prozessvertreter der Bundestagsfraktionen von Grünen und SPD nur Spott übrig hatte: „Das ist das liederlichste Stück Wahlrecht, das ich je erlebt hatte“, schimpfte der Berliner Staatsrechtsprofessor Hans Meyer.

SPD und Grüne haben gegen die Regelung geklagt, außerdem liegt eine Verfassungsbeschwerde von mehr als 3000 Bürgern vor. Zentraler Kritikpunkt sind auch hier die Überhangmandate, die das Gericht bislang im Grundsatz nicht beanstandet hatte. „Es spricht viel dafür, dass sich der Senat nochmals damit zu befassen hat“, sagte allerdings der Berichterstatter des Verfahrens, Verfassungsrichter Michael Gerhardt, in seiner Einführung. Und nach Berechnungen der Kläger kann selbst der verfassungswidrige Effekt des negativen Stimmgewichts auch nach dem neuen Recht nicht ausgeschlossen werden.

Die Richter stehen jedenfalls vor einer unangenehmen Aufgabe: Es sind nur noch 15 Monate bis zur Bundestagswahl, und nach Möglichkeit sollte klar sein, nach welchem Recht gewählt wird, bevor die Parteien ihre Kandidaten aufstellen. Wie es heißt, soll ein Urteil möglichst noch vor dieser Sommerpause verkündet werden. Sollte der Zweite Senat auch das neue Wahlrecht für verfassungswidrig erklären, bliebe nur wenig Zeit für eine Neuregelung. Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, hat die Hoffnung auf das Parlament schon aufgegeben: Sie bat die Richter, selbst eine Übergangsregelung zu erlassen.

Von Jochen Neumeyer