Rheinland-Pfalz

Rechnungshof: Schluss mit Mehrwertsteuer-Chaos

Im Mehrwertsteuer-Dschungel blühen die tollsten Exoten: Für Babybrei und Medikamente kassiert der Staat 19 Prozent, für Katzenfutter und Trüffel aber nur sieben Prozent. Der Bundesrechnungshof drängt die Politik, diesem Wildwuchs endlich ein Ende zu bereiten.

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Rheinland-Pfalz. Im Mehrwertsteuer-Dschungel blühen die tollsten Exoten: Für Babybrei und Medikamente kassiert der Staat 19 Prozent, für Katzenfutter und Trüffel aber nur sieben Prozent. Der Bundesrechnungshof drängt die Politik, diesem Wildwuchs endlich ein Ende zu bereiten.

Von unserer Redakteurin Ursula Samary

Es ist der komplette Wahnsinn: Wenn die Marktfrau Kräuter verkauft, braucht sie eigentlich die Qualifikation eines Steuerprüfers. Denn beim Sträußchen Dill werden nur 7 Prozent Mehrwertsteuer fällig, bei Basilikum aber 19 Prozent. Der Grund liegt nur noch für Historiker auf der Hand, wenn der den Kopf schüttelnde FDP-Finanzexperte Volker Wissing (Landau) aufklärt: „Dill war schon immer ein Küchenkraut. Aber vor 20 Jahren stand Basilikum noch nicht in nahezu jeder Küche.„ Da es Mineralwasser früher auch nur in Apotheken und in keinem Kramladen gab, kassiert der Staat für den vermeintlichen Luxus bis heute auch 19 Prozent Mehrwertsteuer.

Fraglich ist nur, ob früher frische Trüffel, Wachteleier und Gänseleber ständig auf den Tisch kamen. Jedenfalls wird die Delikatesse, falls sie nicht in Essig liegt, nur mit 7 Prozent besteuert, die Babywindel aber mit 19 Prozent. Wer sein Geld in Goldbarren anlegen kann, wird von der Mehrwertsteuer ganz verschont: Das Edelmetall gilt schließlich als Währung.

Die Liste der Groteske ist schier unendlich:

Ob nun die Papaya aus Australien oder die Beeren vom Bauern – der Staat zeigt sich mit 7 Prozent Steuer gnädig. Auch bei der Marmelade. Aber an der Fruchtpresse schlägt der Fiskus zu: Für Saft werden saftige 19 Prozent Steuern verlangt. Tierisch verrückt geht es auch zu: Ein Esel wird mit 19 Prozent versteuert, ein Maulesel wie ein teures Rennpferd aber nur mit 7 Prozent. Für Hauschweine gilt der ermäßigte Satz, für Wildschweine aber der volle.

Holz ist auch nicht gleich Holz: Brennholz für den Ofen gibt es für 7 Prozent Mehrwertsteuer, aber Holzhackschnitzel nur für 19 Prozent! Ebenfalls feine Unterschiede gibt es bei der Kartoffel: Für die frühe Knolle werden 7 Prozent, für die Süßkartoffel 19 Prozent berechnet. Klar doch – oder? Vanille ist dem Fiskus 7 Prozent wert, Vanillezucker aber 19 Prozent. Und: Wer statt Milch Sojamilch trinkt, muss mehr zahlen. Das gilt auch für den, der einen Adventskranz nicht aus frischen, sondern getrockneten Pflanzen kauft.

Genaue Buchführung ist nicht nur in der Gastronomie oder bei Fastfood-Ketten geboten: Isst ein Kunde das in Bäckerei oder Metzgerei belegte Brötchen, ist genau zu unterscheiden, ob er es im Laden (19 Prozent Mehrwertsteuer) oder draußen (7 Prozent) verspeist. Leidvolle Erfahrungen haben Metzgereien machen müssen, die Schulen mit Essen beliefert haben – samt richtigem Besteck und nicht mit Plastiktellern. Wer nicht mit 19 Prozent kalkuliert hat, stand bei plötzlichen Nachforderungen der Finanzämter vor der Pleite, obwohl er sich bei der Abrechnung mit staatlichen Schulen lange auf der sicheren Seite wähnte. Andererseits kritisiert der Bundesrechnungshof auch die Missbrauchsgefahr, weil der „Außer Haus“-Kunde meist genauso viel zahlen muss wie der berühmte „In Haus„-Kunde, der an einem Tisch sitzt.

Ermäßigte Steuersätze hatten bei ihrer Einführung im Jahr 1968 eigentlich sozialpolitische Ursachen: Alle sollten sich Grundnahrungsmittel, Kultur und eine Karte fürs Fußballspiel leisten können. Aber seitdem ist unter dem Druck von Lobbyisten die Systematik der begünstigten Produkte immer unübersichtlicher und widersprüchlicher geworden, kritisiert der Bundesrechnungshof. Auch Willkür hat er entdeckt. Dabei summieren sich die Nachlässe immerhin auf jährlich mehr als 24 Milliarden Euro. Wenn auch viele notwendige Dinge des alltäglichen Bedarfs einen großen Batzen ausmachen, so haben es andere Posten durchaus in sich. Futter für Hunde, Katzen oder Zierfische wie auch Kauspielzeug für Hunde subventioniert der Staat mit mehr als 310 Millionen Euro.

Zugleich schont er jene, die Geld in Kunst und Sammlerstücke anlegen: Sie sparten 800 Millionen zwischen 1999 und 2009. Übrigens wird ein echter Picasso subventioniert, erschwingliche Kunstdrucke aber nicht. Keine Frage, die Rotstift-Experten würden auch mit Hilfen für Hotels, Seilbahnen oder Ausflugsfahrten auf Schiffen aufräumen. Allein mit der steuerbegünstigten Personenbeförderung zu Wasser entgehen dem Staat in den Jahren 2010 und 2011 rund 40 Millionen Euro.

Auf 44 Seiten schreibt der Bundesrechnungshof der Politik seine massive Kritik am Chaos ins Stammbuch. Dabei vermerkt er süffisant, dass das Bundesfinanzministerium inzwischen 140 Seiten braucht, um Beamten eine Anleitung für die Praxis zu geben. Das Fazit der Behörde ist eindeutig: Der Staat muss den Dschungel lichten. Denn er ist auch für Experten nicht mehr durchschaubar, weil viele Ausnahmen nach mehr als 40 Jahren nicht mehr sachlich begründbar sind. Missbrauch lässt sich durch Kontrollen kaum noch verhindern. Sie wären meist nur noch mit enormem Verwaltungsaufwand zu stemmen.

Der Rat der Rechnungsprüfer klingt dringend: „Jede einzelne Begünstigung sollte auf systematische Schwachstellen untersucht und kritisch hinterfragt werden.“ Die Politik will handeln, beteuert sie. Nur wann?