Malu Dreyer: „Wir brauchen gute Arbeit und anständige, angemessene Löhne“

Von Malu Dreyer

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Von Malu Dreyer

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen vom 9. Februar 2010 an Artikel 1 unseres Grundgesetzes erinnert. Dieser Artikel stellt für mich das Herz, aber auch den Verstand unserer Gesellschaft dar.

Mit seinem Urteil stellt das Verfassungsgericht klar: Ein menschenwürdiges Existenzminimum umfasst auch Leistungen, die ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen. Das gilt nicht zuletzt für Kinder. Und: Hilfebedürftige sind keine Almosenempfänger. Sie haben einen Anspruch auf Leistungen, die transparent und nachvollziehbar zu ermitteln sind. Dieser Anspruch ist nicht politisch verhandelbar oder nach Kassenlage zu gestalten.

Mit seinem Urteil hat uns das Bundesverfassungsgericht die Chance eröffnet, ein wirkungsvolles Paket zur Bekämpfung der Armut in Deutschland zu schnüren, vor allem für Kinder.

Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf hat die Bundesregierung die Chance vertan, die Situation für diese Kinder und Jugendlichen und für alle Menschen, die in Armutsgefährdung leben, spürbar und vor allem nachhaltig zu verbessern. Stattdessen schafft sie ein Klima sozialer Kälte, indem sie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielt, denen es allen finanziell nicht gutgeht: Das sind die nicht erwerbstätigen Bezieherinnen und Bezieher von Hartz-IV-Leistungen. Das sind die Männer und Frauen, die arbeiten gehen und so schlecht bezahlt werden, dass sie zusätzliches Geld vom Staat brauchen. Das sind diejenigen, die mit ihrer Arbeit kaum mehr erwirtschaften können und ebenfalls jeden Cent umdrehen müssen. Darunter sind Friseurinnen, Verkäuferinnen, Leiharbeiter und andere, die zu Niedriglöhnen arbeiten.

Natürlich ist es richtig, dass sich Arbeit lohnen muss. Die Frage ist aber: Wie wollen wir das erreichen? Die Not der Menschen, für Billigstlöhne zu arbeiten, darf nicht dadurch verstärkt werden, dass die Existenz sichernden staatlichen Leistungen nach unten gedrückt werden.

Wenn wir Armut wirksam bekämpfen und wieder mehr Menschen in Arbeit bringen wollen, wenn Arbeit sich wirklich lohnen soll, dann müssen wir einen anderen Weg gehen. Wir brauchen gute Arbeit und angemessene, anständige Löhne. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir müssen den Menschen – vor allem den Langzeitarbeitslosen und auch den Alleinerziehenden – Wege zurück in die Erwerbstätigkeit öffnen.

Denn es ist nicht so, dass die Menschen, die Hartz-IV-Leistungen beziehen, nicht arbeiten und auch nicht arbeiten wollen. Natürlich gibt es auch diejenigen, die sich mit ihrer schwierigen Situation arrangiert haben. Aber: Etwa die Hälfte der Leistungsbezieher arbeitet, befindet sich in einer Ausbildung oder in Fördermaßnahmen. Sehr viele andere kümmern sich um pflegebedürftige Angehörige oder um ihre Kinder. Wieder andere sind gesundheitlich eingeschränkt oder zu alt, um Arbeit zu finden. Das von manchen so gern gezeichnete Bild des sich auf Kosten anderer (Geringverdiener) ausruhenden „Faulenzers“ entspricht nicht der Wirklichkeit.

Statt Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen, bekämpft die Bundesregierung Arbeitslose und von Armut Bedrohte. Im Rahmen ihres Sparpakets soll die aktive Arbeitsförderung für Langzeitarbeitslose um 20 Prozent gekürzt werden. Ihre Chance, ins Arbeitsleben zurückzukehren und ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen, wird so deutlich vermindert. Auch die geplante Ausweitung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Bezieher ist ein „vergiftetes Geschenk“. Es wird dazu führen, dass der Niedriglohnbereich weiter wächst. Die Folge: Noch mehr Männer und Frauen werden trotz Erwerbstätigkeit nicht in der Lage sein, für sich und ihre Kinder ein menschenwürdiges Leben zu finanzieren. Sie bleiben auf staatliche Gelder angewiesen.

Damit Kinder – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft – gute Lebenschancen haben, brauchen wir Bildungsangebote, die allen Kindern zugänglich sind. Deshalb ist es mehr als bedauerlich, dass sich die groß angekündigte Verbesserung der Bildungschancen für bedürftige Kinder in dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf nicht wiederfindet. Für eine angeblich umfassende Teilhabe an Sport, Musik und Kultur bleiben 12,50 Euro pro Monat. Wer weiß, was Musikschule, Sportverein, Kino oder Museum kosten, der weiß auch: Das geht völlig an der Lebenswirklichkeit vorbei. Auch das Schulstarterpaket in Höhe von 100 Euro ist keine neue Verbesserung der Bildungschancen. Auf Initiative der SPD steht es den Familien schon seit 2009 zur Verfügung.

Wir könnten für alle Kinder mehr erreichen, wenn die Bundesregierung die Länder und Kommunen endlich finanziell in die Lage versetzen würde, in Bildungsinfrastruktur zu investieren und besonders den Ausbau von Ganztagskindertagestätten und Ganztagsschulen voranzutreiben. Wir in Rheinland-Pfalz haben dafür in den vergangenen Jahren mehr getan als alle anderen westlichen Länder. Unsere Erfahrungen zeigen: Wenn wir Sportvereine, Museen, Musikschulen, Theater und weitere Partner in diese Einrichtungen holen, dann werden die Angebote stärker auch von Kindern aus sozial schwierigeren Verhältnissen genutzt.

Wir brauchen in Deutschland dringend einen Schulterschluss aller Verantwortlichen, um wirksam gegen Armut und ihre Folgen vorzugehen. Der Gesetzentwurf und weitere Pläne der Bundesregierung sind dafür leider keine Basis. Die Menschen in unserem Land haben Besseres verdient.