Kein schädlicher Infraschall aus Windkraft: Messfehler sorgte jahrelang für Argumente gegen den Anlagenausbau
Der Unterschied von 64 zu 100 Dezibel erscheint den Laien eher klein, es klingt nach ungefähr zwei Drittel des ursprünglichen Wertes. Doch weil es sich um eine logarithmische Skala handelt, bei der drei Dezibel in etwa einer Verdoppelung der Schallintensität entsprechen, wächst sich die Differenz von 36 Dezibel beinahe auf den Faktor 4000 aus. Leider ist die Physik auch im Fach der Akustik kompliziert, und neben der Schallintensität gibt es noch den Schalldruckpegel, mit dem sich die menschliche Wahrnehmung besser darstellen lässt. In diese Größe umgerechnet, bedeutet die Korrektur des Bundesamtes eine Reduktion auf 1,6 Prozent des ursprünglich genannten Wertes. Egal, ob der Fehler nun im Bruchteil eines Promille oder im 1-Prozent-Bereich liegt: Ist das Thema „Krank durch Windkraftlärm“ damit vom Tisch?
Nicht, wenn man auf den Mainzer Herzchirurgen Christian Vahl hört. Er hatte zwar mit dem viel zu hohen Wert experimentiert, glaubt aber nun, dass die Korrektur nichts an den Stresswirkungen von Infraschall ändert. Auch bei niedrigeren Schallpegeln hätten weitere Experimente „einen qualitativen Effekt“ auf menschliches Gewebe nachgewiesen. Allerdings muss sich der Mediziner inzwischen der Tatsache stellen, dass moderne Messungen bereits in wenigen Hundert Meter Entfernung von Windrädern überhaupt keinen von dort ausgehenden Infraschall mehr feststellen können. „In 700 Meter Abstand von Windenergieanlagen war zu beobachten, dass sich beim Einschalten der Anlagen der gemessene Infraschallpegel nicht mehr nennenswert oder nur in geringem Umfang erhöht. Der Infraschall wurde im Wesentlichen vom Wind erzeugt und nicht von den Windenergieanlagen“, so steht es im Fazit einer Untersuchung der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg aus dem Jahr 2015. Die Landesbehörde war seinerzeit ausgerechnet wegen der falschen Ergebnisse der Bundesbehörde massiv angefeindet worden – sogar vom BGR selbst, das sehr lange auf seiner Fehlmessung beharrte.
Andere Studien bestätigen die Baden-Württemberger, ihre Messungen gelten in Fachkreisen als relevant. Das Bayreuther Zentrum für Ökologie und Umweltforschung hatte beispielsweise in nur 300 Meter Abstand zu einem Windrad nur eine durchschnittliche Infraschallbelastung von 56 Dezibel gemessen. Das ist weit weniger als sogar der Mainzer Mediziner Vahl als Untergrenze für mögliche gesundheitliche Folgen annimmt. Der Bayreuther Physiker Stefan Holzheu ging noch einen Schritt weiter und beschreibt ein Experiment, eine Autobahnfahrt mit seinem schon etwas älteren Familien-Turbodiesel. Das Auto war zu diesem Zweck mit Messtechnik bestückt worden: „Allein die Rückfahrt (3,5 Stunden) hat uns genauso viel Infraschallenergie ausgesetzt wie 10.000 Tage, also mehr als 27 Jahre, Aufenthalt im 300-Meter-Abstand zum Harsdorfer Windrad“, schrieb der Forscher. Nicht, ohne seine Leser zu beruhigen: „Alle Insassen haben die Fahrten ohne erkennbare Schäden überlebt.“
Gibt es vielleicht Menschen, die auf Infraschall besonders empfindlich reagieren? Der Mainzer Herzspezialist geht davon aus, dass 30 Prozent so veranlagt seien, ähnlich wie es „elektrosensible“ Menschen gebe, sagte er in einem SWR-Interview. Die Betroffenen fühlten sich jedenfalls krank. Im Falle des Infraschalls hat eine US-amerikanische Psychologin dafür sogar einen Namen erfunden: „Wind Turbine Syndrome“. Mittlerweile sind Forscher auch diesem Phänomen auf der Spur. Untersuchungen aus Neuseeland und Australien deuten darauf hin, dass es sich um eine Form des Nocebo-Effektes handeln könnte, sozusagen das Gegenteil einer Placebo-Wirkung: Beim Nacebo erzeugt ein Präparat ohne Wirkung Missempfinden, einfach, weil man negative Folgen erwartet. Die Menschen werden buchstäblich krank vor Angst. In jedem Fall sind weitere Forschungen nötig. Die derzeit vorliegenden Schallmessungen an Windkrafträdern können jedenfalls keine gesundheitlichen Folgen erklären.