Koblenz

Geteiltes Leben: Flucht aus Ostberlin endet an der Mosel

Foto: Damian Morcinek

Berlin, 12. August 1961. Klaus-Jürgen Hempel, ein junger Ingenieur aus dem Ostteil der Stadt, glaubt nicht mehr, dass niemand die Absicht hat, eine Mauer zu errichten. Der 25-Jährige hat einen Entschluss gefasst: Noch in der Nacht wird er die Flucht in den Westen versuchen.

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Koblenz – Berlin, 12. August 1961. Klaus-Jürgen Hempel, ein junger Ingenieur aus dem Ostteil der Stadt, glaubt nicht mehr, dass niemand die Absicht hat, eine Mauer zu errichten. Der 25-Jährige hat einen Entschluss gefasst: Noch in der Nacht wird er die Flucht in den Westen versuchen.

Klaus Jürgen Hempel hat am Moselstausee seine zweite Heimat gefunden.
Klaus Jürgen Hempel hat am Moselstausee seine zweite Heimat gefunden.
Foto: Damian Morcinek

Schon mehrmals hat er heute den immer selben Grenzposten passiert, um persönliche Gegenstände nach Westberlin zu schaffen – in der Tasche einen eigentlich schon abgelaufenen Dienstreiseauftrag, von dem er hofft, dass er ihm im Falle eines Falles als Legitimation dienen kann. Im Nacken die Angst, dass doch noch etwas schiefgeht.

Seitenweise Beobachtungsberichte: Hempels Stasi-Akte.
Seitenweise Beobachtungsberichte: Hempels Stasi-Akte.
Foto: Damian Morcinek

Am Abend hat er es geschafft: Mit einem der letzten U-Bahn-Züge fährt er in die Freiheit. Zurück lässt er drei Schwestern in Gotha und außerdem seine Zwillingsschwester Christa. Die wollte eigentlich mit ihm über die Grenze. Aber sie kommt wenige Stunden zu spät. Die U-Bahnhöfe in Ostberlin werden mit Eisengittern verrammelt, über der Erde beginnt der Bau der Mauer.

Koblenz, 50 Jahre später: Hempel sitzt im Wintergarten seines Hauses am Moselstausee. Das Haar des groß gewachsenen Mannes ist grau geworden, seine Augen sind jung geblieben. Nachdenklich blickt er aufs Wasser und sagt: „Der 13. August 1961 war der schwärzeste Tag der deutschen Nachkriegsgeschichte. Aber für mich war es der glücklichste Schicksalstag meines Lebens.“ In Koblenz hat Hempel seine zweite Heimat gefunden, gemeinsam mit seiner Frau Henriette 1974 das Haus am Moselufer gekauft und dort zwei Kinder großgezogen.

Ins Visier der Stasi geraten

In der DDR hätte er unter ständiger Beobachtung des Regimes gestanden. Denn: Was er als junger Mann nur ahnte, hat ihm nach der Wende seine Stasi-Akte bestätigt: Hempel, der 1959 eine Stelle beim „volkseigenen“ Ostberliner Projektierungs-, Konstruktions- und Montagebüro (PKM) antrat, war 1961 längst ins Visier der Staatssicherheit geraten. Auslöser war wohl eine witzig gemeinte Bemerkung gegenüber einer Kollegin: Weil die PKM unter anderem den Ausbau des Ferngasnetzes in der DDR plante, gab es dort Karten, in denen auch militärische Stützpunkte der Sowjets eingezeichnet waren. Die Karten galten als geheim und wurden in einem Panzerschrank aufbewahrt, über den die Kollegin zu wachen hatte.

„Sie hat den Schrank oft offen gelassen, wenn sie mal zur Toilette musste“, erzählt Hempel. „Und da habe ich einmal gewitzelt, sie solle ihre Toilettengänge nicht zu sehr ausdehnen, sonst hätte vielleicht einer der in Westberlin ansässigen Geheimdienste Gelegenheit, die Karten aus dem Panzerschrank zu nehmen.“ Von diesem Moment an gilt der junge Ingenieur als „subversives Element“.

Selbst Freunde bespitzeln ihn

Fast jeder seiner Schritte, das dokumentieren seitenlange Beobachtungsberichte in seiner Akte, wird überwacht – von Bekannten, Kollegen und sogar von seiner damaligen Liebschaft. Sie arbeitet als technische Zeichnerin im selben Betrieb, gibt sich den schöngeistigen Decknamen „La Bohème“. Ausgerechnet Puccini. Ausgerechnet Hempels Lieblingsoper.

„Den Austausch von Zärtlichkeiten hat sie in ihren Berichten schamvoll und dezent verschwiegen“, sagt Hempel heute. Der Vertrauensbruch, das ist deutlich zu spüren, geht ihm noch immer nahe. „Nach der Wende habe ich ihr als ,Puccini‘ einen bitterbösen Brief geschrieben“, erzählt er. Die Kraft, mit ihr zu sprechen, habe er noch nicht gefunden.

Im Sommer 1961 weiß er von alledem nichts, liest aber aus Zeitungsberichten heraus, dass die DDR die massenhafte Staatsflucht über Westberlin wohl unterbinden wird. Allerdings: „Die Trennung einer über die Jahrhunderte gewachsenen Großstadt mittels Stacheldraht und Mauer kam in meiner Vorstellungswelt nicht vor. Das erschien mir absurd und monströs.“ Erst im August wird ihm klar, dass das Regime es tatsächlich ernst meint. Hals über Kopf plant er seine Flucht – die dann auch gelingt. Im Aufnahmelager Marienfelde in Westberlin lässt er sich registrieren, übernachtet bei einem Onkel. Drei Tage später wird Hempel – wie Tausende andere auch – nach Westdeutschland ausgeflogen.

Koblenz ein Kindehietstraum

Als er im Notaufnahmeverfahren gefragt wird, wo er gern leben möchte, antwortet er „Koblenz“. Sein Bruder lebt in Lahnstein. Außerdem war einer seiner Onkel Fotograf und viel an Rhein und Mosel unterwegs. Die Bilder vom Deutschen Eck haben Hempel schon als Jungen fasziniert, mit dem Leben hier wird für ihn ein Kindheitswunsch wahr.

Im Karneval 1964 lernt er Henriette kennen – „alles andere wäre ein Verlust gewesen“ –, zwei Jahre später heiraten die beiden. Aber die Sehnsucht nach der Familie auf der anderen Seite der Grenze bleibt. Ende der 1960er-Jahre – ein Kind ist schon auf der Welt – wagen die Hempels den ersten Besuch. „Jedes Mal, wenn wir die Grenzkontrolle passiert hatten, habe ich geschimpft: ,Dieser schikanöse Staat sieht mich nie wieder‘“, sagt Klaus-Jürgen Hempel.

Die Hempels besuchen ihre Verwandten trotzdem – mindestens einmal im Jahr. Und oft, wenn sie zu Hause sitzen und an Familie und Freunde „drüben“ denken, wünschen sie sich, einfach die Koffer packen und losfahren zu können – ganz ohne Einreisegenehmigung. Bis es soweit ist, gehen mehr als 20 Jahre ins Land. Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, ist Klaus-Jürgen Hempel „zutiefst berührt“ – und hat noch heute Tränen in den Augen, wenn er sich erinnert, wie er das für ihn Unfassbare am Fernseher verfolgte.

Seitdem besucht er seine erste Heimat regelmäßig – und wird das auch an seinem 75. Geburtstag im November dieses Jahres tun. Er geht dann in Dresden in die Semperoper. Was dort gespielt wird? „La Bohème“.

Von unserer Redakteurin Angela Kauer