Kastellaun

Zeitzeuge aus Kastellaun: Tränen des Mauerbaus trockneten nie

Diese Geschichte beginnt mit Tränen, und sie endet mit Tränen. Erleichterung, Wut, Freude mischen sich in sie. Es sind die Tränen von Wolfgang Hollerbuhl aus Kastellaun. 1961 und 1989. Es sind die Tränen vieler Deutscher.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Kastellaun. Diese Geschichte beginnt mit Tränen, und sie endet mit Tränen. Erleichterung, Wut, Freude mischen sich in sie. Es sind die Tränen von Wolfgang Hollerbuhl aus Kastellaun. 1961 und 1989. Es sind die Tränen vieler Deutscher.

Am frühen Morgen des 13. August 1961 sitzt der 17-jährige Erfurter in einer Pan Am von Westberlin nach Frankfurt am Main. „Wölfi“, wie ihn seine Freunde und die Familie nennen, schaut herunter auf Deutschland – ein Land ohne Grenzen. Hier oben ist der Erfurter frei wie ein Vogel.

Der gebürtige Erfurter, der heute in Kastellaun lebt, flüchtete an jenem Tag.
Der gebürtige Erfurter, der heute in Kastellaun lebt, flüchtete an jenem Tag.
Foto: Dupuis

Er fliegt zu seiner Mutter in den Westen. Dann hört der junge Mann die Durchsage des Flugkapitäns: In Berlin, erklärt der, wird eine Mauer gebaut. Wolfgang weint. Er weint, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hat. Tränen der Freude. Der Erfurter ist erschüttert, wie knapp er dem Mauerbau, dem Eingesperrtsein im eigenen Land entkommen ist. Die Stewardessen müssen sich um ihn kümmern. Wenig später landet Hollerbuhl in Frankfurt. Freudentränen am 13. August 1961 – ein seltenes Glück in Deutschland.

Mit der S-Bahn in den Westen

Hollerbuhls Flucht beginnt am Tag zuvor. Mit seinen Freunden von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zeltet der Erfurter mal wieder am Seddinsee bei Berlin. Jeden Tag fahren sie mit der S-Bahn in den Westen. „In Charlottenburg stieg ich plötzlich aus, sagte noch: Nehmt meine Klamotten mit nach Erfurt zurück. Ich bin weg. Tschüssie.“ Bei Tante Lienchen, der Schwester seiner Oma, übernachtet er, leiht sich Geld für das Flugticket – und weg ist er.

Hunderttausende sind bis 1961 in den Westen getürmt, vor allem die Jungen, Mobilen, gut Ausgebildeten. Oft war es eine spontane Entscheidung wie bei Wolfgang Hollerbuhl, meist war es schmerzhaft, die Heimat hinter sich zu lassen. Die DDR blutete aus und konnte die Wunden einfach nicht schließen. Dazu hat Sowjetführer Nikita Chruschtschow SED-Chef Walter Ulbricht bis zuletzt gedrängt. Die DDR müsse ihren Bürgern das Leben so süß machen, dass diese es nicht hinter sich lassen möchten. Doch Ulbricht und seine Genossen waren dazu nicht in der Lage und drängten den großen Bruder, endlich Ja zum Mauerbau zu sagen. So geschah es dann.

Wer flüchtet, der lässt etwas zurück: die Arbeit, die Nachbarn, den Verein, die Freunde, vielleicht die Familie. Sie fühlen sich allein, zurückgelassen. Es ist das Urerlebnis der deutsch-deutschen Teilung. Auch Wolfgang Hollerbuhl macht diese Erfahrung. 14 Jahre alt ist er, als Mutter und Vater ihn 1958 in Erfurt alleinlassen. Die Eltern flüchten nach Pirmasens. „Wölfi“ soll erst die Schule beenden. Drei Jahre lang lebt er bei seiner Oma.

Der Junge ist geschockt. Doch was bleibt ihm übrig? Er lebt sein Leben weiter. Es war bislang kein schlechtes. Er besucht die Kinder- und Jugendsportschule Erfurt, liebt Leichtathletik und Schwimmen. Er ist gut – „auf dem Weg zum Leistungssportler“. Durch die ganze DDR reist Wolfgang mit seiner Schule. Die „kleinen Pillen“ bekommen sie damals schon. Erst wird er Junger Pionier, dann trägt er das blaue Hemd der FDJ und feiert die Jugendweihe. „Es war ein notwendiges Übel.“ Der Erfurter will einfach dazugehören.

Kurz nach der Flucht seiner Eltern verstößt ihn die DDR, bestraft ihn, lässt ihn allein. Seine Hoffnungen auf eine Karriere als Leistungssportler muss er begraben. Er wechselt an die Polytechnische Oberschule. Auch dies trägt er mit Fassung. Doch die Distanz zu dem Land, in dem er lebt, wird größer. Im Hessischen Rundfunk, den die Hollerbuhls in Erfurt empfangen können, hört er, wie immer mehr Menschen in den Westen flüchten. In den Ferien geht es mit den Freunden an den Seddinsee bei Berlin, von dort fahren sie in den Westen – angelockt von den Lichtern und den vollen Einkaufsregalen.

Kleine Schritte der Annäherung

Das, was getrennt ist, will, muss zusammenwachsen. Willy Brandt hat dies nicht erst 1989 erkannt. Die kleinen Schritte der Annäherung zwischen Ost und West, die er mit seiner von vielen Konservativen bekämpften Ostpolitik beförderte, haben die Mauer immer löchriger gemacht. Brandt und später Helmut Kohl war klar: Nur die Menschen im Osten können, sie werden die Mauer zum Einstürzen bringen, wenn das Leben für sie nicht mehr erträglich, die Sehnsucht zu groß ist und sich ein Fenster öffnet. Michail Gorbatschow hat es aufgestoßen.

Als Hollerbuhl seine Mutter am 13. August 1961 wiedersieht, nimmt sie ihn in den Arm. Sein Vater verstößt ihn wenig später wieder. Der Junge soll sein eigenes Leben leben. Er verpflichtet sich für mehrere Jahre bei der Bundeswehr. Später wird er Versicherungskaufmann.

Was durch die Mauer getrennt war, gehört zusammen. Doch es muss zusammenwachsen, hat Brandt gesagt. Ost und West haben ihre eigenen Biografien im Schatten der Mauer geschrieben. Wie Wolfgang Hollerbuhl und seine Eltern. Sie sind eine Familie, aber sie haben auch ihr eigenes Leben.

Als die Mauer am 9. November 1989 fiel, da hat Wolfgang Hollerbuhl „wie ein Schlosshund“ geheult. Er kann jetzt nicht mehr weitererzählen. Die Tränen.

Von unserem Redakteur Christian Kunst