Schengen

„Geist von Schengen“ machte Traum vom Europa ohne Grenzen wahr

Quer durch Europa reisen, ohne an den Grenzen kontrolliert zu werden – lange Zeit war das ein unerhörter Traum. Doch dann wurde er wahr. Sein Name ist: Schengen. Er begann vor 25 Jahren.

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Alles begann mit einer Absichtserklärung: Am 14. Juni 1985 hoben die Benelux-Staaten, Deutschland und Frankreich ein Europa ohne Grenzkontrollen aus der Taufe. 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fand der Kontinent, der lange von Krieg und Gewalt geprägt war, mit dem Schengener Abkommen friedlich zueinander.

Im Lauf der Jahre stießen immer mehr Länder hinzu – heute sind es 25: die meisten EU-Länder sowie Island, Norwegen und die Schweiz. Von Riga bis Lissabon und von Reykjavik bis Valletta gibt der Schengen-Raum mehr als 400 Millionen Europäern freie Fahrt – egal ob zur Schnäppchenjagd im Nachbarland oder für einen stressfreien Urlaub ohne Stau an der Grenze.

Politik wählt „große Worte“

In diesen Zeiten der Schuldenkrise erfreut sich Europa an der Erfolgsgeschichte Schengen. Wer die europäische Idee sucht, der beschwört den „Geist von Schengen“. Politiker wählen dafür große Worte. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nannte nach dem Ende des Eisernen Vorhangs den Wegfall der Grenzen zu Osteuropa den „schönsten Tag seines Lebens“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einer „großen Freude“. Experten sehen die Bedeutung von Schengen vor allem in dem Gemeinschaftsgefühl: „Die Bürger der EU stehen sich seitdem viel näher, weil ein ,Wir-Gefühl' entstanden ist“, sagt der Politik-Professor Timm Beichelt von der grenzüberschreitenden Europa- Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Das mag die Anziehungskraft erklären, die der Schengen-Raum seit Jahrzehnten ausübt. Auch Länder außerhalb der EU wollten stets zum Klub dazugehören.

Selbst Großbritannien und Irland, die an den Grenzkontrollen festhalten, kooperieren auf polizeilicher Ebene. Es war 1995, als die ersten Schlagbäume tatsächlich fielen – und es geht weiter: Liechtenstein wird das Abkommen bald in Kraft setzen, Bulgarien und Rumänien bereiten ihren Beitritt vor.

„Heute haben wir 25 Schengen-Länder, wenn meine Amtszeit als Kommissarin endet, werden wir vielleicht 30 haben“, sagt EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Dennoch: Bei all dem Glanz hat sich der Erfolg im Lauf der Jahre ein wenig abgenutzt; das Reisen ohne Grenzen ist Normalität geworden.

„Schengen ist quasi Opfer seines eigenen Erfolgs“, sagt ein EU-Diplomat. Heute prägen vor allem die Tücken des Alltags die Debatte, wie das neue Computersystem für Fahnder (SIS II), das seit Jahren auf sich warten lässt und zum teuren Millionengrab werden könnte.

Vor allem aber die weitverbreitete Furcht vor einem Strom von Armutsflüchtlingen und Kriminellen, die illegal über die Grenzen kommen könnten, bringen Schengen immer wieder in Misskredit. Als 2007 neun osteuropäische Staaten, darunter Deutschlands Nachbarn Polen und Tschechien, beitraten, sorgten sich viele, die Reisefreiheit gen Osteuropa werde mit steigender Kriminalität erkauft – doch nichts dergleichen trat ein, wie die Statistik belegt.

Mit Blick auf kommende Erweiterungen sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU): „Die öffentliche Sicherheit wird trotzdem gewährleistet.“ Denn die Polizei hat ihre Taktik geändert: Gezielte Fahndung und Kontrollen im Hinterland ersetzen die Grenzkontrollen. Beamte können Verdächtige auch im Nachbarland weiterverfolgen – die Verbrecherjagd ist grenzenlos geworden. Straftäter werden schneller ausgeliefert, Urteile der Nachbarn vollstreckt. Mit der größten Polizeidatenbank Europas SIS können Fahnder Daten von Kriminellen in Sekundenschnelle abgleichen.

Während im Schengen-Raum die Kontrollen wegfallen, wird an den Außengrenzen zu Drittstaaten schärfer kontrolliert. Zutritt hat nur, wer über ein Visum verfügt. Damit richtet sich das Abkommen besonders gegen illegale Einwanderer. Menschenrechtsorganisationen kritisieren daher die „Festung Schengen“. „Die Freiheit nach innen ist mit einem hohen Preis erkauft worden, nämlich mit der rigorosen Abschottung nach außen“, sagt der Europareferent von Pro Asyl, Karl Kopp.

Tausende von Flüchtlingen

Seit den frühen 90er-Jahren sind allein im Mittelmeer, dem bevorzugten Fluchtweg aus Afrika, mehr als 10 000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen. Für mächtig Ärger sorgte im Frühjahr die gemeinsame Visa-Politik. Wer in ein Schengen-Land einreist und ein Visum erhält, kann sich damit frei in allen 25 Ländern bewegen, und das bis zu drei Monate.

Als die Schweiz im diplomatischen Streit um den libyschen Staatschef Muammar el Gaddafi 188 prominenten Libyern die Einreise verweigerte, galt dieses Verbot automatisch für alle Schengen-Länder. Die EU vermittelte eilig und entschuldigte sich, die Schweizer Presse klagte entrüstet über „Selbstentmündigung“ und „Machtlosigkeit“. Solch einen brisanten Fall hatten die Gründungsväter vor 25 Jahren nun wirklich nicht voraussehen können.

Marion Trimborn