10 Jahre KanzlerIn: Die Grenzen von Merkels Macht

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In einer Hitliste der am häufigsten zitierten Eigenschaften der Kanzlerin würden ihre Zögerlichkeit, ihr Wankelmut und ihr Schielen auf Umfragewerte wohl ziemlich weit oben stehen. Jedenfalls kommt kaum ein Porträt über Angela Merkel ohne diese Zuschreibungen aus. Doch zur zehnjährigen Amtszeit als Kanzlerin muss manche Darstellung umgeschrieben werden.

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In der Flüchtlingskrise bleibt Merkel trotz rapide sinkender Umfragewerte bei ihrer Linie, dass sie keine Obergrenze festlegen wird. Auch das Donnergrollen aus Bayern und die tiefe Verunsicherung der eigenen Parteibasis bringen Merkel nicht zur Kurskorrektur. Und zögerlich war sie schon lange nicht mehr.

So wie manches fest gefügtes Bild über die Kanzlerin in diesen Wochen Risse bekommen hat, so stehen auch die Gewissheiten unserer Wohlstandsgesellschaft infrage. Und das obwohl Merkel als exzellente und nervenstarke Krisenmanagerin mit scharfem Sachverstand gilt. Doch die Krisen, die Flüchtlinge und Terror ins Land getragen haben, sind so tief gehend, dass auch Merkel sie nicht in ein paar Monaten wegmoderieren kann. Die Gleichung, wonach Deutschland satt und zufrieden ist, so lange Mutti regiert, geht nicht mehr auf. Nach zehn Jahren Wohlstand trotz mancher Krise in der Welt und in Europa verunsichert dies die Bürger zutiefst. Sie fragen: Warum kann die mächtigste Frau der Welt nicht die Grenzen ihres eigenen Landes effektiv kontrollieren?

Zur Beantwortung dieser Frage muss ein weiteres Vorurteil über Merkel beseitigt werden: Oft wurde der in der DDR aufgewachsenen Pfarrerstochter vorgeworfen, dass sie zwar die Freiheit schätze, aber in Wahrheit kein Herz für Europa habe. Insbesondere in der Euro-Krise musste sie mit diesem Vorwurf von rechts und von links leben, von Euro-Kritikern und von den Spargegnern. Mit Härte und Beharrlichkeit setzte sie weite Teile ihrer Sparpolitik in Europa durch, und der Euro stabilisierte sich.

Während sie in der Euro-Krise auf das Einhalten der gemeinsamen Regeln pochte, muss sie sich nun von den übrigen Europäern vorwerfen lassen, in der Flüchtlingskrise selbst die Regeln zu verletzen. Das ist nicht von der Hand zu weisen: Das Dublin-Abkommen, wonach die Flüchtlinge in dem Land registriert werden müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten, funktionierte auch Anfang September schon nicht mehr. Doch ihre Entscheidung damals, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge über Österreich einreisen zu lassen, hat das Dublin-Abkommen symbolisch gänzlich außer Kraft gesetzt.

Die Kritik des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), der ihr „einen schweren politischen Fehler“ vorwarf, verstärkte den Effekt in der Öffentlichkeit, wonach der seitdem nicht mehr abreißende Zustrom an Flüchtlingen als Merkels Flüchtlinge wahrgenommen wird. Die Kanzlerin blieb dennoch bei ihrer Ablehnung einer Obergrenze. Sie ist überzeugt, dass das freie, menschwürdige Europa in Gefahr ist, wenn Deutschland Flüchtlinge über Österreich und den Balkan zurückschiebt.

Ihre Argumentation ist europäisch. Dennoch wird viel gerätselt, warum diese machtbewusste, nüchterne Physikerin an der Spitze Deutschlands in der Flüchtlingskrise ihre Politik allein zuvorderst nach humanitären Maßstäben gestaltet. Ist es ihre protestantische Prägung? War es die Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen, das weinte, als Merkel ihr vor laufender Kamera sagte, nicht alle, die kommen, könnten in Deutschland bleiben? Möglicherweise ist Merkel nach zehn Jahren im Amt bereit, Risiken einzugehen, um ihrer Überzeugung zu folgen. Jedenfalls widersprach sie ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder nicht, als dieser bei der gemeinsamen Präsentation seiner Biografie über die entscheidenden Momente einer Kanzlerschaft sprach und auch darüber, dass man eine Überzeugung auch unter der Gefahr durchhalten muss, das Amt verlieren zu können. Bei Schröder waren es bekanntlich die Sozialreformen der Agenda 2010, die ihn das Amt kosteten. Damals bekam er Applaus von Union und FDP, heute wird die Flüchtlingskanzlerin von Grünen und Linken gelobt.

Merkel ist nach zehn Jahren im Amt an einem Punkt angelangt, an dem die Macht und die öffentliche Meinung zum Machterhalt nicht mehr im Zentrum ihres Handelns stehen. Rund um ihren 60. Geburtstag vor etwa eineinhalb Jahren wurde sie als im Zenit ihrer Macht stehend wahrgenommen. Diese Phase dauerte knapp ein Jahr. In einem Zeitraum von wenigen Wochen gelang es Merkel, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu verhandeln und in der Euro-Krise die Griechen auf Linie zu zwingen. Die Welt staunte über die schlaue Deutsche, der keine Krise schwer genug zu sein schien.

Der Koalitionspartner und die Opposition im Land fügten sich in die Vorstellung, dass, solange Deutschland von dieser wendigen Schwarz-Rot-Grünen regiert wird, eigene Kanzlerkandidaten nur Kanonenfutter für Wahlkämpfe sind. Doch zum Zehnjährigen ihrer Amtszeit am 22. November hat sich die Lage rapide verändert. Ihre Flüchtlingspolitik zieht die Umfragewerte der Union nach unten, während der rechte Rand wächst und Pegida Zulauf bekommt. In Europa erhält sie viel Häme und wenig Solidarität. Der Parteitag Mitte Dezember wird zeigen, ob Merkels „Wir schaffen das“ eine Zukunft hat. Kann sie ihre Parteifreunde nicht überzeugen, wird die Erosion ihrer Macht nicht mehr aufzuhalten sein. Eva Quadbeck