Ex-Botschafter: Kinder der Mittelschicht demonstrieren

Wer in Brasilien auf die Straße geht Foto: DPA

Rio de Janeiro/Bonn. Es sind die größten Proteste seit Jahrzehnten: Mehr als eine Million Menschen demonstrieren in Brasilien gegen Korruption und hohe Lebenshaltungskosten. Dabei sind es vor allem die „Kinder der neuen Mittelschicht“, die für ihre Rechte auf die Straße gehen. Das sagt Dr. Uwe Kaestner. Der 74-Jährige war lange Jahre im auswärtigen Dienst und von 1999 bis 2004 Botschafter in Brasilien.

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Seit 2004 ist Kaestner Präsident der deutsch-brasilianischen Gesellschaft in Bonn.

Das Interview:

Wie schätzen Sie die Situation in Brasilien ein? Beunruhigt Sie die Lage?

Es sind die größten öffentlichen Demonstrationen seit 1992. Damals forderten vor allem Studenten den Rücktritt des korrupten Präsidenten Fernando Collor de Mello. Er trat nach Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens von selbst zurück. Diesmal steht nicht Präsidentin Dilma Rousseff im Fokus, sondern es werden außerordentlich vielschichtige, zum Teil widersprüchliche Forderungen erhoben.

Die Proteste richten sich vor allem gegen Kommunen und Einzelstaaten, unabhängig davon, ob sie von der in Brasilia regierenden Koalition oder von der Opposition getragen werden, sowie gegen eine als korrupt empfundene politische Klasse. Dementsprechend wurden Versuche von Parteien, bei den Protesten eigene Fahnen und Plakate zu zeigen, in der Regel von den Demonstranten abgeblockt. Ganz wichtig ist: Die Demonstrationen sind überwiegend friedlich und diszipliniert.

Wer geht in den Städten auf die Straße?

Ein Kommentator schrieb mit Recht, dass die „Kinder der neuen Mittelschicht“ den Großteil der Demonstranten stellen. Sie waren in der Regel bisher apolitisch, zum Teil wollen sie auch bei etwas Neuem, einem „Event“ mitmachen. Aber natürlich haben die meisten konkrete Forderungen, vor allem im Bereich der Bildung und der öffentlichen Dienstleistungen. Es gibt, soweit ich weiß, keine herausgehobene Rolle von Angehörigen der Oberschicht oder von Intellektuellen und – ganz wichtig – keinen Aufstand der Elendsviertel, also der Favelas.

Können Sie die Wut der Menschen verstehen?

Ich verstehe den Unmut der Menschen wegen der Wirtschaftslage: Seit vergangenem Jahr gibt es nur geringes Wachstum, aber die Angst vor einer neuerlichen Inflation wächst. Es waren ja die Preissteigerungen bei Busfahrkarten und die teuren Tickets für den Confed Cup die Auslöser für den Wutausbruch.

Die Proteste in Brasilien werden zum Teil mit denen des Arabischen Frühlings verglichen. Sehen Sie das auch so?

Der Vergleich mit dem Arabischen Frühling hinkt: Zwar wird auch in Brasilien über die sozialen Netzwerke mobilisiert, und die Demonstranten ahmen Protestsymbole nach. Aber die Proteste richten sich nicht gegen eine diktatorische oder autoritäre Führungsperson oder -schicht, sondern gegen die verschiedenen Regierungsebenen unterschiedlicher Parteien. Es gibt im Hintergrund keine fundamentalen religiösen oder ethnischen Differenzen. Ein Teil der Forderungen ist zudem schon erfüllt.

Zum Beispiel wurden die Fahrpreiserhöhungen zurückgenommen, entsprechend der Linie von Präsidentin Rousseff, die von Anfang an die Bereitschaft zum Dialog bekräftigt hat.

Fifa-Präsident Joseph Blatter hat sinngemäß gesagt, wenn der Ball erst einmal rollt, würden die Demonstrationen enden. Wie sehen Sie das?

Der Ball rollt ja eigentlich schon ... Vergessen wir nicht: Als Brasilien die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 zugesprochen wurden, haben breite Bevölkerungsschichten das mit Begeisterung begrüßt und mit großen öffentlichen Partys gefeiert. Jetzt zeigen sich die tatsächlichen Kosten für die nötigen Investitionen, die aber – was die Verkehrsinfrastruktur angeht – ohnehin überfällig waren. Ich hoffe, dass sich die Lage – vor allem, wenn die brasilianische Nationalmannschaft weiter gewinnt – beruhigt. Und zwar nicht erst 2014, sondern bald.

Die Fragen stellte Angela Kauer