Das kleine Monster, das nicht fürchterlich war

Es war einmal ein kleines Monster, das lebte in einer großen Höhle mit anderen Monstern. Das kleine Monster war nicht besonders groß und auch nicht besonders stark wie die anderen. Es war auch nicht besonders furchterregend in seinem grauen Fell und den gelben Streifen. Da, wo andere spitze Zähne und Klauen hatten, besaß es nur einen Zahn und weiche Tatzen.

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Auch konnte es nicht so schrecklich brüllen wie die anderen. Wann immer es den Mund aufmachte, kam nur ein leises Murmeln heraus. „Du bist kein Monster!“, pflegten die anderen stets zu sagen. „Vor dir wird sich nie jemand fürchten.“ „Das stimmt nicht!“, rief das kleine Monster. „Und das werde ich euch beweisen!“

Also packte es seine Sachen und verließ die Höhle. Lange lief es durch einen ganz dunklen Wald, bis es nicht mehr wusste, woher es eigentlich gekommen war. Dann marschierte es durch endlose Felder mit goldgelbem Korn, das heftig an seiner Nase juckte. Es schipperte sogar auf einem kleinen Floß über einen breiten Fluss. Doch nirgends, wo es hinging, fürchteten sich die Menschen vor ihm.

„Nein, wie putzig!“, rief eine alte Dame und strich über sein grau-gelbes Fell. „So eine Katze habe ich noch nie gesehen!“ „Aber ich bin doch keine Katze“, dachte das kleine Monster, traute sich aber nicht, es laut auszusprechen.

Niedergeschlagen kam es schließlich in ein kleines Dorf. Da hörte es, wie ein alter Mann mit seinen Enkeln an ihm vorbeiging. „Am Ende der Straße liegt ein altes Haus, da dürft ihr nie hingehen! Es ist ganz alt und knarrt grässlich im Wind. Man sagt, dass dort die fürchterlichsten Geister von allen wohnen!“ „Da muss ich hin!“, dachte das kleine Monster begeistert. „Wenn mir die Geister beibringen, wie man ganz fürchterlich ist, dann wird sich kein Monster mehr über mich lustig machen!“ Also begab es sich zum Ende der Straße.

Der alte Mann hatte nicht gelogen. Das Haus war mindestens 100 Jahre alt! An den Wänden wuchs Efeu, und Spinnen hatten ihre langen Netze über Fenster und Türen gewoben. Im Wind knarrte das Haus so wunderbar schaurig, dass das kleine Monster es kaum erwarten konnte hineinzugehen. Vorsichtig öffnete es die schwere Tür und trat zwischen die dunklen Schatten.

„Hallo!“, rief es, so laut es konnte, aber da es nur ganz leise murmeln konnte, antwortete niemand. „Hallo! Wohnen hier die schrecklichsten Geister?“ Niemand antwortete ihm. Neugierig sah es sich um, durchsuchte jeden Raum, aber von den schrecklichsten aller Geister konnte es keine Spur finden. „Hier wohnt ja keiner“, stellte es traurig fest und setzte sich auf einen kleinen Koffer auf dem Dachboden. Da fing es lauthals an zu weinen und rührte sich nicht mehr.

Nun war es jedoch so, dass die Enkel des alten Mannes zwar die Warnungen ihres Großvaters gehört hatten, aber dennoch zu dem alten Haus am Ende der Straße geradelt waren. Die Neugier hatte den Jungen und das Mädchen gepackt, als sie vor dem alten Gemäuer standen und ein schauriges Geräusch daraus drang. „Was ist das?“, fragte das Mädchen. „Hörst du das auch?“ „Das ist nur der Wind“, versicherte ihr Bruder ihr und öffnete die schwere Tür.

Gemeinsam huschten sie in das Haus und sahen sich um. Überall lag Staub in dicken Schichten, und Mäuse quiekten aus Löchern. Spinnweben bedeckten die Wände, und ein ganz schauriges Geräusch drang von oben herab. „Das ist nicht der Wind“, flüsterte das Mädchen ängstlich. „Hörst du nicht auch das Heulen?“ „Bestimmt eine Katze, die unter einen Schrank gekrochen ist und nicht mehr herauskommt. Komm, wir helfen ihr!“ Und so gingen sie die Treppe nach oben. Jeder Schritt knarrte unter ihren Füßen, und das Geräusch wurde immer lauter. Der Junge ging voran, seine Schwester dicht hinter ihm.

Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, standen sie vor der Tür zum Dachboden. Vorsichtig öffneten sie sie und fanden in einer Ecke etwas Pelziges auf dem Boden liegen. Es war nicht besonders groß, doch weinte es besonders laut. Sein Fell war so grau wie das einer Katze, doch hatten Katzen keine gelben Streifen. „Siehst du, es ist nur eine Katze!“, lachte der Junge. „Ich bin keine Katze!“, fauchte das kleine Monster und entblößte seinen spitzen Zahn.

Das Mädchen schrie vor Schreck, und auch der Junge zuckte zusammen. Da schloss das kleine Monster schnell sein Maul und sah sie mit traurigen Augen an. „ Tut mir leid, aber ich wollte euch nicht erschrecken. Ich bin nur so schrecklich traurig.“ „Wieso bist du denn so traurig?“, fragte das Mädchen. „Weil die anderen Monster sagen, dass sich nie jemand vor mir fürchten wird.“

„Also wir haben uns sehr vor dir gefürchtet“, tröstete sie ihn. „Ich habe sogar geschrien!“ „So fürchtet man sich also?“, fragte das kleine Monster. „Nein, das gefällt mir nicht! Das ist mir viel zu traurig! Gibt es denn nichts Fröhlicheres?“ „Unser Opa sagt immer, wir sollen laut lachen, wenn wir uns vor etwas fürchten“, sagte der Junge. „Dann wäre es nicht mehr so gruselig.“ „Ich habe es noch nie geschafft. Ich hatte bisher immer zu viel Angst“, meinte das Mädchen.

Da kam dem kleinen Monster eine großartige Idee. Es schrieb Einladungen an alle Monster aus der großen Höhle, die ihn verspottet hatten, und erzählte ihnen von zwei Kindern in dem alten Haus, die sich nur vor ihm fürchteten.

Sofort eilten die Monster herbei, um das zu sehen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass irgendjemand Angst vor dem kleinen Monster mit den gelben Streifen hatte. Und als die Monster zu dem alten Haus am Ende der Straße kamen, riet ihnen das kleine Monster, sie sollen sich in jeder Ecke, unter jedem Bett und in jedem Schrank verstecken, damit die Kinder sie ja nicht sahen.

Als jedes ein Versteck gefunden hatte, betraten der Junge und das Mädchen das alte Haus und fingen sofort an zu schreien, als sie das kleine Monster sahen. „Buh!“, rief es immer wieder, und die Kinder riefen: „So ein fürchterliches Monster!“ Da kamen auch die anderen Monster aus ihrem Versteck und wollten die Kinder selbst erschrecken. Grausige Grimassen zogen sie. Sie brüllten laut und klackten mit ihren Krallen, aber die Kinder fingen nur an zu lachen. Erst leise, aber dann immer lauter.

Verwirrt versuchten die Monster immer wieder, sie zu erschrecken, aber die Kinder weinten nur noch vor Lachen.

Seit diesem Tag machte sich niemand mehr über das kleine Monster lustig, und die Kinder fürchteten sich nicht mehr. Denn manchmal reicht es einfach aus, seiner Angst ins Gesicht zu lachen.

Katharina von Werne aus Sessenbach hat die Geschichte für Kinder (ab 6 Jahren), die im Krankenhaus liegen, geschrieben.