Tschernobyl

Das lange Sterben nach Tschernobyl

Das lange Sterben nach Tschernobyl Foto: Gabi Novak-Oster

das ist mehr als nur eine Kleinstadt im Norden der Ukraine. Der Name steht für eine Katastrophe. Am 26. April 1986 kam es in der Nähe zu einem folgenschweren Unfall in einem Atomreaktor. Genaue Zahlen über Opfer kann – oder will – niemand nennen. Fest steht, dass es Hunderttausende gab, noch immer gibt und lange geben wird. Unsere Kollegin Gabi Novak-Oster erinnert sich an die damaligen Besuche in Weißrussland (Belarus), an Begegnungen und Gespräche, die über ihre journalistische Arbeit hinausgingen.

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Im Rahmen einer Reha stellt mir die Therapeutin Fragen zu unterschiedlichsten Themen, will die Erinnerungsfähigkeit testen. Zum Beispiel mit der Frage: „Was sagt Ihnen Tschernobyl?“ Es sprudelt förmlich aus mir raus: exaktes Datum, die Folgen der Reaktorkatastrophe für Mensch und Umwelt weit über den Standort des Reaktors in der Ukraine hinaus, das Leiden und Sterben der Kinder in Weißrussland, meine persönlichen Erinnerungen ... Das hatte die Fragestellerin nicht erwartet und möchte eine Erklärung. Die ist einfach und überzeugend: Wer einmal im betroffenen Gebiet war, wer das Leiden der Erkrankten gesehen hat und ohnmächtig war zu helfen, wer vom stillen Sterben vieler Kinder hörte, die am Tag der Katastrophe noch nicht einmal geboren waren – der vergisst Tschernobyl nicht. Nicht das Datum, nicht die Bilder, nicht die Erzählungen. Am wenigsten die Menschen.

30 Jahre sind seit der Reaktorkatastrophe vergangen. Die giftige Wolke zog von der Ukraine nach Norden, überquerte ungehindert die Grenze nach Weißrussland und regnete ab. Über zwei Millionen Menschen. In den betroffenen Regionen begann eine neue Zeitrechnung. Sie wird wohl noch lange gemessen in Toten und Kranken, in Tränen und Schmerz. Obwohl damals offiziell dementiert, verfälscht, verharmlost oder gar verschwiegen – die Folgen, die Menschen, sprechen eine klare Sprache. Viele finden nur mühsam zu einem Lächeln, wissen nicht, ob sie die nächste Morgensonne sehen werden.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl die Radioaktivität (im Mai 1986).

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Blick auf den Betonmantel um das geborstene Kernkraftwerk Tschenobyl.

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Eine schwere Explosion hatte am 26. April 1986 den Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tscherobyl in der Ukraine zerstört. 32 Menschen starben sofort, tausende an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung. 120.000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Wolken und Winde trugen die freigesetzte Radioaktivität auch nach Westeuropa.

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Von einem Hubschrauber aus wurde im Januar 1991 diese Übersicht des Atomkraftwerks Tschernobyl aufgenommen. Eine schwere Explosion zerstörte am 26. April 1986 den Reaktorblock II des Kernkraftwerks.

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Eine Angehörige eines Tschernobyl-Opfers steht zwischen Gedenksteinen in Kiew am 26. April 1999 während einer Gedenkveranstaltung. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Rostende Auto-Scooter auf dem Festplatz der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl. Das Volksfest zum 1. Mai 1986 fiel aus. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Blick auf den Eingang zum einstigen Hotel der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl am 7. April 2011.

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Das geisterhaft leere Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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Der Kulturpalast im Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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Nataschas Zuhause ist ein spärliches Krankenzimmer

So, wie Natascha. Wir lernen die Sechsjährige in einer Minsker Klinik kennen. Dort teilt sich das Mädchen seit vier Monaten mit dem elfjährigen Pavil ein Krankenzimmer. Der Raum ist spärlich eingerichtet, die Wände sind ringsherum gefliest, Infusionsflaschen baumeln an krummen Gestellen. Wie soll hier jemand gesund werden? Aber hätten die beiden Kinder in einer heimeligeren Umgebung eine Chance gehabt zu überleben? Sie leiden an einer besonders aggressiven Form der Leukämie, haben gerade eine Chemotherapie hinter sich, die Haare sind ausgefallen, die Gesichter blass. Kinder, die noch nie Kind sein durften.

Nataschas Mutter versucht, ihre Tränen zu verbergen, es gelingt nicht. Sie drückt der Tochter ein Foto in die Hand, Natascha hält es traurig vor sich, blickt verlegen auf ein lächelndes Kind im bunten Kleid, im Haar eine blaue Schleife. Ein Bild, das Geschichte ist. Wie alle in der 300 Kilometer entfernten Kleinstadt mussten auch Pavil und Natascha täglich radioaktiv verstrahlte Nahrung zu sich nehmen. „Saubere“ Produkte waren für die Eltern zu teuer. Wie viele Menschen mit ihrem Leben bezahlen mussten, das steht in keinen Statistiken.

Begegnungen wie die mit Natascha sind schwer zu ertragen. Doch wie viel schwerer mag es erst für die Betroffenen sein. Sechs Jahre nach dem Reaktorunfall besucht der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Ullrich Galle die onkologische Station eines Minsker Krankenhauses. Galle ist bekannt für seine flotten Sprüche, beim Betreten des „Sterbezimmers“ aber schnürt es ihm die Kehle zu. In dem Zimmer liegt die 13-jährige Swetlana. Ihr bösartiger Tumor im Oberschenkel kann nicht mehr behandelt werden, und inzwischen ist bereits die Lunge betroffen. „Wir können die Entwicklung nur abbremsen“, sagt der Arzt. Wie lange – er schweigt. Swetlana weiß, wie es um sie steht. Als letzten Wunsch hat sie um ein Fernsehgerät im Krankenzimmer gebeten. Wie unwirklich, wenn daraus lachende Kinderstimmen zu hören sind. Tränen kullern über das Gesicht des Ministers.

Auf Jahrhunderte ein tödliches Territorium

Zehn Jahre „nach Tschernobyl“ nennt Professor Wassily Borissovitsch Nesterenko im Gespräch mit unserer Zeitung die Wahrheit. Ihr ist der Direktor des unabhängigen Belorussischen Instituts für Strahlensicherheit mit Sitz in Minsk seit Jahren auf der Spur. 370 landesweit gestreute Kontrollstationen liefern die Daten dafür. Nesterenko ist sicher: „90 Prozent der Bestrahlung erfolgen durch den Verzehr einheimischer Produkte.“ Zehn Jahre nach der Katastrophe gelten 3668 Dörfer und Städte als belastet, der Professor rechnet 800 Orte dazu. Ein tödliches Territorium auf Jahrhunderte. Cäsium beispielsweise hat eine Halbwertzeit von 300 Jahren. Das lange Sterben nach Tschernobyl.

Viele Orte nahe der Grenze zur Ukraine werden geräumt, die Bewohner umgesiedelt. Eine gespenstische Atmosphäre, als wir uns 1996 der „verbotenen Zone“ nähern. 30 Kilometer entfernt liegt der Reaktor. Dank der Genehmigung des Ministeriums geht die Fahrt voran. Es hat geschneit, unser Auto legt die erste Spur.

Drei Kilometer weiter erreichen wir das Dorf Savici. „Vor Tschernobyl“ wohnten hier 3000 Menschen, sie alle wurden acht Tage nach der Katastrophe mit Bussen abgeholt und nach Gomel gebracht, der nächstgrößeren Stadt. Ein Jahr später kehrten die ersten Bewohner zurück, heute sind es 138. Sie konnte sich in der Fremde nicht einleben, klagt eine alte Frau. Keine Arbeit, keine Schulen, keine Freunde. „Dann wollten wir lieber in der Heimat sterben.“ In den Gärten wird angebaut, was in den Kochtopf kommt: Kartoffeln, Gemüse, Getreide. Es reicht gerade zum Leben – doch nicht zum Überleben.

Zehn Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt bleibt das Auto im Schnee stecken. Ohnehin gäbe es hier nicht viel zu sehen, außer Stacheldraht und Warnschildern.

Weiterfahrt nach Bragin, die am stärksten verstrahlte Stadt in Weißrussland. 10.000 Menschen sollen hier einmal gelebt haben, jetzt sind es noch 20 Familien. „Neubürger“ aus Armenien, Georgien, Kasachstan. Sie haben sich für den „langsamen Tod“ entschieden, statt sich im Heimatland eine Kugel in den Leib jagen zu lassen. Welch ein Wahnsinn.

Der Blick auf die Tschernobyl-Reportagen aus den 90er-Jahren bedrückt und wirft Fragen auf: Was ist aus all den Menschen geworden, die wir trafen, aus Natascha, Swetlana, Pavlin und den vielen anderen? Und was haben wir aus Tschernobyl gelernt …