Tschernobyl-Katastrophe vor 30 Jahren: Der Lügen-GAU

An der Grenze des Todes: Bergungsmannschaften sind nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt.  Foto: dpa
An der Grenze des Todes: Bergungsmannschaften sind nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Foto: dpa

Unser früherer Moskau-Korrespondent Alexei Makartsev erinnert sich an die Tschernobyl-Katastrophe: Wie in sowjetischen Staatsmedien das Ereignis vertuscht worden ist und wie er als kleiner Junge auf einmal nicht mehr die Großmutter auf der Krim besuchen durfte.

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In der Pause fragte mich damals ein Mitschüler: „Hast du gehört, dass in der Ukraine etwas passiert ist?“ Ich hatte nichts gehört. Am Montag, dem 28. April 1986, ging in meiner Moskauer Schule ein Gerücht von einer seltsamen Panne in unserer benachbarten „Bruderrepublik“ um, die sich zwei Tage zuvor ereignet hatte. Doch niemand wusste etwas Genaues, wir waren 16 Jahre alt und ohnehin zu sehr mit Mädchen und den nahenden Abschlussprüfungen beschäftigt, um uns viele Gedanken über einen möglichen fernen Unfall zu machen. Abends widmete die streng blickende Moderatorin des TV-Nachrichtenprogramms „Wremja“ ihm exakt 13 Sekunden Zeit, in fünf knappen Sätzen: Eine „Havarie“ sei passiert, ein Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl sei beschädigt, es würden „Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen“ ergriffen, den Verletzten werde geholfen, eine Kommission sei gebildet. Wir fanden zunächst, es klang nicht besonders aufregend.

Die kommunistische Staatsführung servierte die Wahrheit wohldosiert in sehr kleinen Scheibchen. Am 29. April sprachen die Medien erstmals von einer „Katastrophe mit Todesopfern“. Vier Tage später schrieb die „Prawda“, dass die radioaktive Strahlung sinke und dass keineswegs Tausende Menschen getötet worden seien, wie es die böse westliche Propaganda darstelle, sondern nur zwei.

In sowjetischen Staatsmedien wird die Katastrophe vertuscht

„Gibt es eine größere Schande als Schadenfreude nach einem Unglück?“ So fragte das Parteiblatt zwei weitere Tage später rhetorisch und behauptete, dass alle notwendigen „Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung“ sehr schnell getroffen gewesen seien. Wir glaubten ihm kein Wort. Jeder in der Sowjetunion wusste, dass eine Katastrophe wirklich schlimm sein musste, wenn die Staatsmedien genau das Gegenteil behaupteten.

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Meine Mutter und ich kauften in jenem Jahr vorsichtshalber keine Beeren und Pilze auf dem Markt. Aus Angst vor der Strahlung besuchten wir im Sommer 1986 nicht, wie gewohnt, meine Oma auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Bald war jedoch die Atomkatastrophe kein großes Thema mehr, alle sprachen von Gorbatschows neuer Politik der Perestroika. Die Sowjetunion, die für den geplanten globalen Sieg des Kommunismus die erfolgreiche Kernkraft brauchte, verfiel spätestens nach der Verurteilung des Tschernobyl-Direktors Brjuchanow im Folgejahr zurück in die alten Lobeshymnen an die Erbauer und Betreiber der vielen Atomkraftwerke als „Gebieter des friedlichen Atoms“.

Erst viele Jahre später wurde mir bei einem Gespräch mit einem sogenannten Liquidator wirklich klar, was jene etwa 90 000 heldenhaften Katastrophenhelfer im April 1986 erlebt hatten – und welch hohen Preis ihr Einsatz gefordert hat. Alexander Woroschilow war Deutschlehrer im südrussischen Rostow-am-Don. Auf Staatsbefehl wurde er nach Tschernobyl geschickt und einer Einheit zugeteilt, die das Dach des explodierten Reaktorblocks säuberte. Nur jeweils wenige Minuten am Tag schaufelten er und die anderen Männer radioaktives Grafit zurück in den glühenden Schlund. Es reichte, um ihre Gesundheit komplett zu ruinieren. „Niemand gab uns saubere Uniformen, also mussten wir ständig unsere verstrahlten Klamotten tragen“, erzählte mir Alexander. Zu hohe Strahlungsdosen seien vertuscht und in den Einsatzprotokollen herunter gerechnet worden. Nach sieben Monaten Aufräumarbeiten waren die Blutwerte des 31-Jährigen so schlecht, dass er mit seinem baldigen Tod rechnete. Als der Sowjetstaat später dem vorzeitig pensionierten Lehrer die Anerkennung seiner strahlungsbedingten Berufsunfähigkeit verweigerte, dachte Alexander auch an Selbstmord. Er spürte noch 20 Jahre nach dem Super-GAU Stiche im Herz und rasende Kopfschmerzen. Wenn er seine Wohnung verließ, zog sich der kahlköpfige Mann aus Scham eine Perücke über. Seine winzige Rente reichte kaum zum Überleben. 2015 zahlte der russische Staat den „Liquidatoren“ monatlich eine Extra-Pension von umgerechnet 159 Euro.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl die Radioaktivität (im Mai 1986).

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Blick auf den Betonmantel um das geborstene Kernkraftwerk Tschenobyl.

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Eine schwere Explosion hatte am 26. April 1986 den Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tscherobyl in der Ukraine zerstört. 32 Menschen starben sofort, tausende an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung. 120.000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Wolken und Winde trugen die freigesetzte Radioaktivität auch nach Westeuropa.

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Von einem Hubschrauber aus wurde im Januar 1991 diese Übersicht des Atomkraftwerks Tschernobyl aufgenommen. Eine schwere Explosion zerstörte am 26. April 1986 den Reaktorblock II des Kernkraftwerks.

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Eine Angehörige eines Tschernobyl-Opfers steht zwischen Gedenksteinen in Kiew am 26. April 1999 während einer Gedenkveranstaltung. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Rostende Auto-Scooter auf dem Festplatz der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl. Das Volksfest zum 1. Mai 1986 fiel aus. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Blick auf den Eingang zum einstigen Hotel der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl am 7. April 2011.

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Das geisterhaft leere Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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Der Kulturpalast im Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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2006 besuchte ich als Korrespondent in Russland die strahlende Ruine und das entvölkerte 30-Kilometer-Sperrgebiet um den Reaktor. 1986 wurden hier fast 100 Städte und Dörfer geräumt, rund 200 000 Menschen wurden fortgebracht, viele jedoch viel zu spät. In der vier Kilometer vom Kraftwerk entfernten Industriestadt Pripjat lebten und arbeiteten einst 50 000 Menschen. Nach Experteneinschätzung starben in den Jahren nach dem GAU viele von ihnen an Krebs, Lungen- oder Herzversagen, wahrscheinlich infolge von Strahlenschäden.

Pripjat ist eine Geisterstadt, in der die Zeit stehen geblieben ist. Auf den Hauswänden sieht man noch heute die sowjetischen Propagandaparolen: „Mit Lenins Partei zum Sieg!“ In den leeren Straßen erobert sich die Natur ihre Lebensräume zurück, Bäume wachsen inmitten von Kreuzungen, Kletterpflanzen schlängeln sich durch offene Fenster in die Wohnhäuser hinein.

Die „Zone“ ist eine fremdartige, unheimliche Welt, die nach eigenen Gesetzen lebt. Man erzählt, dass im verseuchten „roten“ Wald um Tschernobyl herum unglaubliche Geschöpfe wie Wolfshunde leben oder riesige Katzen, die Menschen angreifen. „Alles Märchen“, sagte mir damals ein Begleiter vom ukrainischen Katastrophenschutz. In den Kühlwasserbecken am Kraftwerk soll es aber wirklich zwei Meter große Fische geben. „Wer sie berührt, riskiert radioaktive Verbrennungen.“

Viele ehemalige Bewohner sind in verseuchte Region zurückgekehrt

Kein Märchen sind dagegen die „strahlenden Flecken“ abseits der gesäuberten Straßen in der „Zone“: Manche Stellen im Wald sind mit Rückständen von Cäsium, Strontium und Plutonium stark kontaminiert und werden teilweise auch noch Zehntausende Jahre lang gefährlich bleiben. Trotzdem leben hier wieder Menschen, eigentlich illegal, doch die Behörden lassen sie weitgehend in Ruhe und schicken ab und zu sogar Ärzte oder fahrende Lebensmittelläden, damit sich die Rückkehrer versorgen können. „Wer fortging, ist schon tot“, sagte mir der damals 55-jährige Fjodor Musytschenko aus dem Dorf Iljinzy. „Für uns ist es aber noch viel zu früh, um zu sterben“, fügte der wie 70 aussehende Mann hinzu und lächelte breit mit seinem zahnlosen Mund.

Unser Autor Alexei Makartsev (46) ist in Moskau aufgewachsen und hat einen Teil seiner Kindheit in Deutschland verbracht. Im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe verließ Makartsev die Schule, um sein Journalismus-Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität zu beginnen. Er studierte später Journalismus in Hannover und machte eine Ausbildung als Redakteur in Oldenburg. In den Jahren 2000 bis 2006 berichtete Makartsev für unsere Zeitung aus Russland, danach arbeitete er als Korrespondent in Großbritannien. 2013 übernahm Alexei Makartsev bei der „Schwäbischen Zeitung“ die Leitung der Onlineredaktion, heute ist er Politikredakteur in Ravensburg.