Das deutsche Traumpaar findet sich langsam

1989 war Revolution, 1990 Rausch, danach kam die Realität. Und die war für viele hart und ernüchternd, in Ost und West. Sie war aber auch lehrreich. Eine Bilanz.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Foto: dpa

1989 war Revolution, 1990 Rausch, danach kam die Realität. Und die war für viele hart und ernüchternd, in Ost und West. Sie war aber auch lehrreich. Eine Bilanz.

Die ostdeutsche Band „Silly“ besingt die Einheit in sarkastischen Tönen: „Das Traumpaar des Jahrhunderts – die Schlampe und der Held – tanzen mit großer Geste auf dem Parkett der Welt. Sie schwebt verwirrt in Düften, in Lichtern, bunt und grell, und er versäuft in aller Ruh’ die Mitgift und ihr Fell. Und wenn es ihr zu eng wird im sündhaft teuren Kleid, sagt er: Sei still und schäm Dich für Deine Vergangenheit.“

Als der Urschrei nach Revolution und Einheit verklungen war, stand das Traumpaar noch einmal zusammen. In der Nacht zum 3. Oktober 1990 starrte es ungläubig auf das offene Brandenburger Tor, Zeichen der Einheit. Fast amüsiert schaute es auf die Politiker auf der Empore des Reichstags, die Getriebenen des Volkswillens.

Doch die Politik hatte längst ihre Spuren hinterlassen, hatte dem Osten „blühende Landschaften“ versprochen, dem Westen eine Vereinigung zum Nulltarif. So legte sie den Grundstein für Frust und Enttäuschung.

20 Jahre später geht es dem Traumpaar gar nicht so schlecht. Fast führen sie eine gleichberechtigte Beziehung. Materiell gesehen. Jeder Ostdeutsche hatte 2008 ein Einkommen von durchschnittlich 15 536 Euro – 1991 waren es 8156 Euro. Arbeitnehmer im Osten verdienen 76,5 Prozent so viel wie die Westkollegen. 1991 waren es nur 46 Prozent. Doch schon Mitte der 90er-Jahre stagnierte die Entwicklung. 1996 lag die Quote bereits bei 73 Prozent. Zugleich breitete sich im Osten die Armut aus, verschärft sicherlich durch die Hartz-IV-Reform. Heute beziehen 17 Prozent der Ostdeutschen Arbeitslosengeld II, im Westen sind es hingegen nur 8 Prozent.

Einheit bei Handy und TV

Fast identisch sehen heute die Wohnungen des Traumpaars aus: 86 Prozent der Haushalte in Ost und West telefonieren mit einem Handy. In 16 (West) und 15 (Ost) von 100 Wohnzimmern stehen Flachbildschirme, Geschirrspüler laufen in 55 Prozent der Ost- und 64 Prozent der West-Küchen. Auch die Renten haben sich stark angeglichen. Die Standardrente Ost liegt bei 1086, die im Westen bei 1224 Euro. Wenn man bedenkt, dass die DDR-Rentner 1988 nur 37 Prozent der ohnehin niedrigen Bruttoeinkommen als Alterseinkunft erhielten, dann sind die Ruheständler sicherlich die Gewinner der Einheit.

Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass nicht nur 60 000 Betriebe geschlossen wurden, sondern 500 000 neue entstanden sind. Keinen Ersatz gab es indes für die 1,7 Millionen oft jungen, hoch qualifizierten Menschen, die den Osten seit 1990 verlassen haben.

Was diese Zahlen nicht ausdrücken, ist die gewaltige Umwälzung im Leben und Denken, die den Ostdeutschen abverlangt wurde. In wenigen Jahren mussten sie nicht nur den Sprung in die Marktwirtschaft schaffen. Fast zeitgleich standen sie wie der Westen vor den noch größeren Herausforderungen einer heraufziehenden Globalisierung mit Ängsten vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg.

Eigene Mentalität geschaffen

Längst verlaufen die Trennlinien nicht mehr allein zwischen Ost und West. Städte wie Leipzig spielen eher in einer Liga mit Stuttgart und Hamburg. Gleichzeitig wächst der Frust in Duisburg und Bremerhaven, die eher auf das Niveau von Regionen wie Eisenhüttenstadt gesunken sind.

Man könnte sagen, dass Menschen, die ihrer Heimat im Osten nach 1990 entrissen wurden und die Folgen einer Revolution ihres Lebens verarbeiten mussten, besser vorbereitet waren auf eine Welt der Ungewissheit und eine alternde Gesellschaft. Wer den Osten 20 Jahre nach der Hochzeit des Traumpaars bereist, der sieht neben Industriebrachen auch eine stolze, selbstbewusste, heimatverliebte Gesellschaft und Oasen des Wohlstands. Nahrung für eine eigene, positive ostdeutsche Mentalität, gestärkt auch durch die gemeinsame Geschichte, vor 1990 und danach. 81 Prozent der Deutschen halten die Wiedervereinigung heute für einen Glücksfall. Es gibt Grund zur Hoffnung, dass eintritt, was „Silly“ dem Traumpaar wünscht: „Die Suppe ist dünn und das Bett nicht sehr breit, der Hunger kommt beim Essen und die Liebe mit der Zeit.“