Pädophilie: Tabu lässt Betroffene schweigen

Foto: kalligrafie - Fo

Um den SPD-Politiker Sebastian Edathy ist es zwar wieder still geworden, das Thema Pädophilie ist damit aber nicht vom Tisch: Jetzt macht erneut die Odenwaldschule von sich reden, nachdem ein Lehrer den Besitz von Kinderpornos gestanden hat. Doch worum geht es bei dieser Neigung überhaupt? Ein Interview mit dem Neurobiologen und Psychiater Professor Wolfgang Retz, Universitätsmedizin Mainz:

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Wie viele Betroffene gibt es in Deutschland?

Schwierige Frage, konkret beantworten lässt sich die nicht. Es gibt ein großes Dunkelfeld und daher keine verlässlichen Zahlen. Schätzungen gehen von einem Prozent der männlichen Erwachsenen aus – also von rund 250 000 Männern mit dieser Neigung. Solche Zahlen sind auch deshalb schwierig, weil es da fließende Übergänge und unterschiedliche Ausprägungen gibt. Nicht jeder, der pädophile Fantasien im Kopf hat, handelt auch nach diesen Fantasien.

Welche Abstufungen unterscheiden Sie bei dieser sexuellen Neigung?

Die recht schwammige medizinische Definition von Pädophilie als psychische Störung ist „das anhaltende Interesse von erwachsenen Menschen an präpubertären Kindern“. Das lässt natürlich sehr viel Interpretationsspielraum. Pädophile Neigungen haben sehr viele Menschen – es ist aber ganz unterschiedlich, wie sie diesen Neigungen nachgehen. Bei vielen bleibt es eine Fantasie, andere beschaffen sich kinderpornografisches Material, um sich sexuell zu befriedigen. Und einige treten mit Kindern in Kontakt, entblößen sich exhibitionistisch, berühren sie oder missbrauchen sie sexuell.

Pädophilie muss also nicht zwingend in eine Straftat münden?

Keinesfalls. Und nicht jeder, der sich pädophil betätigt, gehört zur sogenannten Kerngruppe der Pädophilen, die sich sexuell für nichts anderes interessiert als für präpubertäre Kinder und diese sexuellen Bedürfnisse auch auslebt. Das ist eine recht kleine Gruppe. Bei der weit größeren Gruppe ist das ein Nebenfeld sexueller Betätigung. Es gibt auch dissozial geprägte Menschen, bei denen die eigene Bedürfnisbefriedigung in allen Lebensbereichen im Vordergrund steht und die auch in Sexualleben relativ wahllos sind. Die holen sich ihre Befriedigung dort, wo es sich gerade anbietet. Das sind oft Menschen, die sich nicht an soziale Normen halten, wegen Vergewaltigung verurteilt werden oder auch Kinder sexuell missbrauchen.

Soziale Normen unterliegen dem Wandel. Gilt Pädophilie heute – im Gegensatz zum alten Griechenland – generell als krank?

Seit es die Psychiatrie als Fach gibt, gilt Pädophilie als abnorm. Heute spricht man von einer Störung sexueller Präferenzen. Darüber besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Aber natürlich unterliegen solche Normen auch einem Wandel. Das sieht man beispielsweise daran, wie wir heute mit Homosexualität umgehen: Bis 1994 waren homosexuelle Handlungen nach dem Deutschen Strafgesetzbuch strafbar, und Homosexualität war auch in der bis 1992 gültigen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen als Krankheit erfasst. In den 1960er-/70er-Jahren ging die Tendenz dahin, den sexuellen Umgang mit Kindern eher zu liberalisieren. Im Moment schwingt das Pendel eher wieder dahin, dass wir sehr restriktiv sind und die Grenzen sehr, sehr eng setzen wollen.

Brauchen wir engere Grenzen, also strengere Gesetze beim Umgang mit Pädophilie?

Meiner Ansicht nach reichen unsere Gesetze aus. Als Gesellschaft stellen wir uns die Frage: Was ist akzeptabel? Die Antwort hängt von sozial, ethisch und historisch bedingten Normen ab. Juristisch setzt der Gesetzgeber die Norm fest: Die Grenze zur Straftat liegt da, wo das Selbstbestimmungsrecht eines anderen Menschen überschritten worden ist. Das ist nach unserem Rechtsempfinden nicht mehr vertretbar. Dann müssen die Strafverfolgungsbehörden aktiv werden.

Weiß man, wie Pädophilie entsteht?

Da gibt es viele Hypothesen. Die variieren je nach Blickrichtung. Soziologen sehen sie eher als Störung einer Entwicklung, die in der Kindheit ausgelöst wird. Tatsächlich ist es so, dass Missbrauchserfahrungen in der eigenen Kindheit häufig eine Rolle spielen. Aber das allein reicht als Ursache nicht. Wir gehen davon aus, dass es sehr unterschiedliche Einflussfaktoren gibt. Etwa genetische, hormonelle oder neurobiologische. Was letztendlich dafür verantwortlich ist, wissen wir ehrlich gesagt nicht.

Sind Pädophile immer Männer?

Es gibt auch sexuelle Straftaten an Kindern, an denen Frauen beteiligt sind. Aber das ist eher selten und hat nicht unbedingt mit einer pädophilen Neigung zu tun.

Da geht es dann mehr um Machtmissbrauch als um sexuelle Befriedigung: Wo verläuft die Trennlinie?

Da muss man klar unterscheiden: Bei Pädophilie geht es um Eigenschaften von Personen. Bei Missbrauch geht es um ein Verhalten, wo Kinder zu Schaden kommen – letztendlich also um eine Straftat. Das eine muss mit dem anderen überhaupt nichts zu tun haben. Allein aus der Tatsache, dass jemand ein Sexualdelikt zum Nachteil eines Kindes begeht oder daran beteiligt ist, auf eine psychiatrische Diagnose zu schließen, ist nicht statthaft. Aus medizinischer Sicht versuchen wir zu klären, ob eine psychische Störung erkennbar ist oder ob ein derartiges Vergehen durch andere Faktoren erklärbar ist.

Als forensischer Psychiater stelle ich mir die Frage: Ist das ein Kranker, der behandelt werden muss, oder ein Krimineller, der durch die Justiz nach den gesetzlichen Regelungen bestraft werden muss? Bei den wenigsten Sexualstraftätern lässt sich eine psychische Störung feststellen, die die Grundlage für eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik bildet. Das heißt im Klartext: Die wenigsten Menschen, die sich sexuell an Kindern vergehen, sind im psychiatrischen Sinne krank.

Gibt es Heilung?

Meiner Meinung nach sind die Chancen einer grundlegenden Veränderung pädophiler Neigungen gering. Bei der Kerngruppe der Pädophilen, bei denen dies nicht nur einen Nebenaspekt ihrer sexuellen Bedürfnisse darstellt, die sexuellen Bedürfnisse völlig umzukrempeln, klappt in der Regel nicht. Im Fokus steht deshalb die Frage, wie Betroffene mit ihrer Sexualität umgehen. Man kann auch von einem Pädophilen erwarten, dass er nicht gegen Gesetze verstößt. Da müssen die Patienten an einen Punkt kommen, ihre Sexualität auf eine Weise auszuleben, die mit unserem sozialen und rechtlichen Rahmen kompatibel ist.

Welcher Handlungsspielraum bleibt Pädophilen überhaupt? Und wie lässt sich das Verlangen nach Kindern beherrschen?

Das muss man ganz individuell sehen. Die eigene Sexualität ungebremst auszuleben, geht als Pädophiler schlicht nicht, wenn man straffrei bleiben will. Therapien setzen oft da an, wie sich Fantasien kontrollieren oder eventuell umlenken lassen. Und natürlich geht es darum, sich potenziell gefährlichen Situationen – etwa der ungeschützten Begegnung mit Kindern oder dem Internet – gar nicht erst auszusetzen. Die Behandlungskonzepte setzen oft verhaltenstherapeutisch an. Einheitliche Standards der Behandlung müssen weiterentwickelt werden.

Was halten Sie von der sogenannten chemischen Kastration?

Grundsätzlich gibt es natürlich auch die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung, die darauf abzielt, den Sexualtrieb zu dämpfen. Das ist keine ganz einfache Geschichte, weil es zu diesem Zweck nur wenige Arzneimittel gibt und diese starke Nebenwirkungen haben. Vor allem wenn man sie langfristig einnimmt, wirken sie sich negativ auf Stoffwechsel, Psyche und Knochendichte aus. Eine solche Behandlung ist daher nur in ganz schweren Fällen und nur mit Einwilligung des Patienten möglich. Und natürlich ist ein solches Vorgehen rechtlich und ethisch nicht unproblematisch.

Welchen Beitrag kann die Gesellschaft beim Umgang mit Pädophilen leisten?

Es wäre schon sinnvoll, wenn man das Schwarz-Weiß-Denken, das derzeit herrscht, zumindest einmal zur Diskussion stellt. Wir müssen uns klarmachen, dass sich hinter dem Etikett pädophil sehr viel Unterschiedliches verbergen kann. Das würde schon zur Versachlichung des Themas beitragen und verhindern, dass sich die Bevölkerung in zwei Lager teilt: Wegsperren oder Psychiatrie. Wegsperren – also die Sicherungsverwahrung – ist sicher nicht die Lösung des Problems.

Um eine Straftat zu vermeiden, müssen wir statistisch gesehen fünf Betroffene einsperren, die in ihrem Leben keine weitere Straftat begehen würden. Wenn wir eine Therapie fordern, müssen wir auch die Rahmenbedingungen schaffen: Geld investieren, um Therapieangebote zu schaffen und vor allem geeignete Therapiemethoden entwickeln. Der Umgang mit Pädophilen ist in der Psychiatrie nicht gerade ein Bereich, der gefördert wird. Niederschwellige Therapieangebote sind letztlich der beste Opferschutz. Derzeit überlassen wir Betroffene zu oft sich selbst.

Raten Sie Pädophilen, sich mit ihrer Neigung zu outen?

Man muss sich erst einmal sich selbst gegenüber offenbaren, feststellen, mit mir stimmt etwas nicht. Es gibt Betroffene, die unter ihren pädophilen Neigungen leiden und wollen, dass sich etwas ändert. Es ist ein schwieriger Schritt, sich das selbst einzugestehen – erst recht, das in einem therapeutischen Setting zu reflektieren. Pädophil zu sein, ist enorm stigmatisierend. Selbst wenn man so weit kommt, sich das einzugestehen, bleibt immer noch das Problem, einen Therapeuten zu finden, der sich mit Pädophilie auskennt und bereit ist, sich mit einem auseinanderzusetzen.

Sich öffentlich zu outen gegenüber Bekannten und dem Nachbarn halte ich für schwierig. Wir haben ja schon Probleme damit, einen homosexuellen Fußballer zu akzeptieren. Von gesellschaftlicher Akzeptanz eines Pädophilen sind wir noch weit entfernt. Man muss sich aber auch fragen, ob das überhaupt erstrebenswert ist.

Das Gespräch führte Nicole Mieding