Rheinland-Pfalz

„Multiple Sklerose hat einen Großteil ihres Schreckens verloren“

Irgendwann müssen Patienten mit Multipler Sklerose (MS) schmerzvoll begreifen, dass ihre Kraft endlich ist. Denn sehr viele der deutschlandweit rund 240.000 Betroffenen leiden unter dem Fatigue- oder Erschöpfungssyndrom. Ursache ist eine multiple Entzündung von Nervenleitungen in Rückenmark und Gehirn.

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Die Myelinhülle der Nervenfortsätze wird streckenweise zerstört. Das Nervengewebe vernarbt, es sklerotisiert, daher der Name Multiple Sklerose. Am Anfang steht jedoch eine Erkrankung des Immunsystems. Die Folge: Die körpereigenen Abwehrzellen greifen die Nervenzellen an und zerstören sie nach und nach. MS ist also eine Autoimmunerkrankung.

Was zerstörerisch klingt, hat für Experten wie Dr. Dieter Pöhlau an Wucht verloren. „Auch wenn eine Heilung nicht in Sicht ist, können wir MS-Patienten deutlich besser behandeln. Ihre Versorgung und Lebensqualität hat sich deutlich verbessert. Die Multiple Sklerose hat einen Großteil ihres Schreckens verloren. Das sieht man an Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die trotz MS eine toughe Politik macht“, sagt der Chefarzt an der DRK-Kamillus-Klinik in Asbach (Kreis Neuwied).

In der Akutklinik in Asbach kämpft Pöhlau vor allem mit hoch dosiertem Cortison gegen die Schübe, mit denen bei 85 Prozent der Patienten die MS beginnt. Diese Schübe sind so etwas wie kleine Angriffskriege auf die Nervenzellen, gegen die Mediziner wie Pöhlau Abwehrraketen in den Körper schicken. Und zwar so früh wie möglich. „Hit hard and early“ – also schlag früh und hart zu, lautet die Strategie. Die Zeit zwischen den ersten Symptomen und der Diagnose sowie dem Gegenschlag sollte möglichst gering sein. Heute liegt die Spanne im Schnitt bei dreieinhalb Jahren, früher waren es sieben bis acht Jahre. Mit positiven Folgen: „Wir haben immer weniger Schwerstbehinderte unter MS-Patienten“, berichtet Pöhlau.

Immer häufiger gelingt es, Patienten in der ersten, durch Schübe gekennzeichneten Phase quasi einzufrieren. Das ist enorm wichtig, weil die MS in der zweiten progredienten Phase in einen schleichenden Prozess übergeht, bei dem Nervenzellen unwiederbringlich zerstört werden und der mit den zugelassenen Medikamenten kaum beeinflusst werden kann.

Wenn es Pöhlau geschafft hat, Patienten in dieser ersten Phase zu stabilisieren, kommt die Stunde von Reha-Experten wie Dr. Stefan Kelm, Ärztlicher Direktor der Westerwaldklinik in Waldbreitbach (Kreis Neuwied). Kelm muss sich dann mit den vielfältigen Symptomen der Krankheit der 1000 Gesichter beschäftigen, die von Gefühlsstörungen über Bewegungsprobleme bis hin zu Schluckstörungen und Doppelbildern reichen.

Wegen der verbesserten medikamentösen Therapie stehen für die Patienten immer seltener motorische Probleme im Vordergrund, dafür aber Erschöpfungs- und Konzentrationsprobleme. Mit erheblichen Folgen: Laut einer internationalen Umfrage unter mehr als 8600 Patienten in 125 Ländern geben 24 Prozent der MS-Patienten ihren Job ein Jahr nach der Diagnose auf, fast 50 Prozent nach drei Jahren. „Es gibt kein zugelassenes Medikament, das die Folgen der Fatigue lindert. Daher müssen Patienten ihr Verhalten am Arbeitsplatz ändern. Sie müssen gezielt und regelmäßig Pausen einlegen“, sagt Kelm. Doch der Mediziner ist Realist: „Das ist in unserer heutigen Arbeitswelt sehr schwierig. Aber wer als MS-Patient an seine Grenzen geht oder darüber hinaus, braucht sehr lang, um sich zu erholen.“ Um Lösungen zu finden, gibt es an dem Waldbreitbacher Krankenhaus einen Reha-Fachberater, auch die Deutsche Rentenversicherung testet in einem Pilotprojekt Fallmanager. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft bietet mit Jobcoaches Unterstützung an.

Und dann gibt es auch bei MS Tabuthemen. Das größte ist wohl die Blasenstörung, die laut Kelm bei 60 bis 80 Prozent der Patienten auftritt. „Ihr Alltag ist dadurch erheblich eingeschränkt. Viele Patienten haben zum Beispiel eine enthemmte Blase. Wenn die drückt, müssen sie sofort zur Toilette. Viele trinken deshalb weniger. Doch das verschärft die Probleme noch.“

Auch hier gilt: „Früh erkannt, kann man das sehr gut behandeln. Doch eine unbehandelte Blasenstörung kann zu erheblichen Komplikationen wie Harnwegsinfekten oder einer Nierenschädigung führen.“ Deshalb sollten Betroffene ihre Blase von Spezialisten wie einem Neurourologen untersuchen lassen, um die richtige Therapie zu finden. So lässt sich ein überaktiver Blasenmuskel etwa medikamentös entspannen. Patienten, deren Blase sich nicht mehr vollständig entleert, können laut Kelm lernen, den Urin mit einem Katheter selbst abzuführen. Sind sie dazu etwa aus motorischen Gründen nicht in der Lage, hilft nur noch ein Dauerkatheter.