Mainz

Leiter des Covid-19-Registers kritisiert Fokus auf Intensivstationen: „Wir müssen die Pandemie neu denken“

Von Christian Kunst
Covid-19-Patienten sind nicht nur auf Intensivstationen, sondern gerade auch auf Normalstationen eine zunehmende Belastung.  Foto: dpa
Covid-19-Patienten sind nicht nur auf Intensivstationen, sondern gerade auch auf Normalstationen eine zunehmende Belastung. Foto: dpa

Blindflug: So umschreiben Experten den Weg, den Deutschland angesichts eines Mangels an belastbaren Daten durch die Pandemie geht. Nie zuvor galt dies so sehr wie in der Omikron-Welle. Die Daten über die Inzidenzen werden angesichts rationierter PCR-Tests immer löchriger, die Hospitalisierungsrate, wichtiger Indikator für die Corona-Maßnahmen, hinkt der Realität in den Kliniken oft Tage oder Wochen hinterher. Anders in Rheinland-Pfalz:

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Hier gibt es seit April 2020 tagesaktuelle Meldungen über die Auslastung der Kliniken mit Covid-19-Patienten, auch auf den Normalstationen. Im Interview mit unserer Zeitung spricht Dr. Anselm Gitt, Oberarzt am Herzzentrum Ludwigshafen und verantwortlich für das Covid-19-Register des Landes, darüber, wie Omikron die Lage in den Kliniken verändert und warum wir dringend bundesweit bessere Daten über die Auslastung der Kliniken brauchen.

Wie ist die Omikron-Lage bei Ihnen in der Klinik?

Ob Omikron schon bei uns ist oder nicht, das lässt sich im Detail nicht sagen. Denn nur bei 5 bis 10 Prozent der Covid-19-Patienten wird eine PCR-Sequenzierung gemacht. Das ist gesetzlich so vorgegeben. Wir gehen aber davon aus, dass Omikron in Zukunft auch in Rheinland-Pfalz die große Mehrheit der Infektionsfälle ausmacht. Die Lage ist bei uns noch gut beherrschbar, auch wenn die Zahl der Patienten im Vergleich zur vergangenen Woche erneut zugenommen hat.

Wie ist die Lage in allen rheinland-pfälzischen Krankenhäusern aufgrund der Zahlen aus dem Covid-19-Register des Landes?

Es gab nach der Delta-Welle Ende 2021 einen Rückgang der Patienten. Wir beobachten jetzt aber erste Anzeichen für eine deutliche Steigerung der stationären Fälle im Land. Die Zahl der Covid-19-Patienten in den 91 rheinland-pfälzischen Krankenhäusern ist zu Beginn dieser Woche im Vergleich zum jeweiligen Vortag um 5 bis 10 Prozent gestiegen. Von Sonntag auf Montag war es ein Plus von 12, von Montag auf Dienstag von erneut 9 Prozent. Als die vierte Pandemiewelle vor zehn Tagen abgeebbt ist, waren wir bei 362 stationären Patienten. An diesem Dienstag waren es schon wieder knapp 498 Patienten, von denen 424 auf Normal- und 74 auf Intensivstationen behandelt werden.

Wie ernst ist die Lage?

Es ist noch zu früh, das mit Gewissheit zu beurteilen. Sicher ist, dass wir aktuell noch weit von den Zahlen zu Hochzeiten der zweiten oder dritten Welle im Herbst und Winter 2020 entfernt sind, als teilweise bis zu 1200 Patienten in den rheinland-pfälzischen Kliniken behandelt wurden. Im Mai 2021 gab es noch einmal einen Höhepunkt von etwa 700 Patienten, in der Hochzeit der Delta-Welle im Dezember 2021 waren es 700 bis 800 Patienten. Doch die jetzt zu beobachtende deutliche Zunahme um etwa 10 Prozent im Vergleich zum Vortag macht mir schon große Sorgen. Es ist noch nicht klar, ob sich dieses starke Wachstum der Fälle fortschreibt. Wir erleben aber gerade wohl eine Trendwende.

Die tendenziell mildere Omikron-Variante soll ja eher zu mehr Patienten auf den Normalstationen führen. Ist das schon zu sehen?

Von den 59 am Montag dazugekommenen Patienten liegen 53 auf Normalstationen. Aus den bisherigen Wellen wissen wir, dass 20 Prozent der stationären Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen behandelt werden mussten. Ob sich dieser Trend unter Omikron abschwächt, ist noch unklar.

Gehen Sie auch davon aus, dass der Höhepunkt der Omikron-Welle Mitte Februar erreicht wird?

Das wird von Experten so berichtet. Auch ich halte das für erwartbar. Allerdings muss man bedenken, dass wir uns bisher nur auf die Erfahrungen mit den vorherigen Virusvarianten stützen können. Wir wussten in etwa, wie viele der Neuinfizierten ins Krankenhaus kommen werden und wie viele auf Intensivstation. Doch dieses Bild ändert sich vermutlich mit Omikron. In früheren Wellen hatten wir vielleicht 30.000 oder bei Delta in der Spitze 60.000 Neuinfektionen pro Tag, jetzt sind es weit mehr als 100.000.

Selbst wenn Omikron zu milderen Verläufen führen sollte und im Vergleich zu Delta nur halb so viele Infizierte in die Kliniken kommen sollten, bedeutet eine drei- bis fünfmal höhere Inzidenz als in vorherigen Wellen, dass deutlich mehr Patienten in die Krankenhäuser kommen werden. Das heißt: Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir in den Kliniken wieder an die Belastungsgrenze kommen werden. Und ich rede von Krankenhäusern im Allgemeinen und nicht nur von Intensivkapazitäten. In den bisherigen Wellen gab es auf Normalstationen noch einmal vier- bis fünfmal so viele Patienten wie auf den Intensivstationen. Aktuell sind es in Rheinland-Pfalz sogar sechsmal so viele Patienten auf den Normalstationen.

Hinzu kommt, dass durch die vielen Infektionen auch zunehmend das Personal ausfallen wird. Wie ist die Personallage in den Kliniken?

Wir fragen diese täglich bei den Kliniken ab. Drei Antworten sind möglich: Grün bedeutet, dass die volle Versorgung möglich ist, gelb bedeutet Einschränkungen beim Personal, die aber noch kompensierbar sind, rot signalisiert eine knappe Personallage, die zu einer eingeschränkten Behandlungskapazität führen kann. Gelb und rot melden derzeit circa 60 Prozent der Kliniken, 27 Prozent befinden sich im gelben, 33 Prozent im roten Bereich. Das kann dazu führen, dass diese Kliniken nicht alle zur Verfügung stehenden Betten betreiben können. Da die Notfallversorgung immer Vorrang hat, müssen Patienten hier gegebenenfalls mit Einschränkungen bei planbaren Behandlungen rechnen. Wenn es durch die Omikron-Variante zu vermehrten Infektionen auch beim Klinikpersonal kommen sollte, wird dies die Lage aufgrund der notwendigen Quarantäne deutlich verschärfen.

Der Expertenrat der Bundesregierung hat die desolate Corona-Datenlage beklagt. Im rheinland-pfälzischen Covid-19-Register gibt es tagesaktuelle Daten aus allen Krankenhäusern im Land. Viele Bundesländer hinken hingegen bei der Hospitalisierungsrate Tage, teils Wochen hinterher. Wie kann das sein?

Warum sich andere Regionen in Deutschland anders aufstellen, kann ich nicht beurteilen. Wir wissen aber durch die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, dass in der Omikron-Welle mit vielen Infizierten und einem milderen Verlauf deutlich mehr Patienten auf den Normalstationen landen. Daher ist es immens wichtig, auch die Belegung der Normalstationen der Kliniken tagesaktuell zu dokumentieren. Das machen wir im rheinland-pfälzischen Covid-19-Register in Zusammenarbeit mit dem Mainzer Gesundheitsministerium seit den ersten Tagen der Pandemie im April 2020. Wir haben also im Register Daten des gesamten Pandemieverlaufs.

Ist das ein Modell für ganz Deutschland?

Ja. Ich habe schon sehr frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass die Belastung der Krankenhäuser nicht nur mit Blick auf die Intensivkapazitäten gemessen werden muss, sondern auch mit Blick auf die Normalstationen. Deshalb hoffe ich, dass unser Modell des Covid-19-Registers auch außerhalb von Rheinland-Pfalz Schule macht. Denn es schafft eine sehr gute Datengrundlage als Steuerelement und Frühwarnsystem für die Politik. Anhand der Daten kann man rechtzeitig erkennen, wenn die Lage in den Kliniken und in einzelnen Regionen schwierig wird. Man sollte hervorheben, dass das Land Rheinland-Pfalz auch wegen dieser Daten gut durch die Pandemie gekommen ist, ohne dass wir in eine wirkliche Not gekommen wären. Auf dieser Basis war es möglich, frühzeitig zu erkennen, wenn Kliniken in einer Region denen in einer anderen helfen müssen.

Gibt es auch bei Ihnen eine verzögerte Meldung, oder handelt es sich um ein Echtzeitbild?

Man muss unterscheiden zwischen dem sehr detaillierten Krankheitsregister, wo es zu zeitlichen Verzögerungen bei der Dateneingabe der Kliniken kommen kann, und dem Kapazitäten- oder Belastungsregister, das tagesaktuell ist. Das Gesundheitsministerium hat die Krankenhäuser dazu verpflichtet, diese Daten täglich einzugeben.

Wäre es nicht sinnvoll, das rheinland-pfälzische System bundesweit etwa über das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) auf alle Krankenhäuser auszuweiten?

Der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Prof. Dr. Christian Karagiannidis, hat einen genaueren Überblick über die Gesamtzahl der Patienten, die mit Corona infiziert sind, gefordert. Dazu gehören neben den Intensivpatienten auch die große Zahl von Patienten auf Normalstationen. Die Erfahrungen aus Rheinland-Pfalz mit der Dokumentation dieser Daten seit Pandemiebeginn könnten also ein gutes Modell für eine solche Datenerhebung auch in den anderen Bundesländern sein. Gern stehen wir dabei für einen Erfahrungsaustausch zur Verfügung.

Ist es in der Omikron-Welle dann nicht sehr wichtig, möglichst schnell bundesweit eine tagesaktuelle Hospitalisierungsrate zu bekommen?

Ja. Wir müssen die Pandemie neu denken – dazu zwingt uns die Omikron-Variante. Bislang konnten wir den Grad der Hospitalisierung über die Inzidenz vorhersehen. Das verändert sich jetzt. Wie, das wissen wir noch nicht. Das ist so was wie die Glaskugel der Pandemie, über der noch viel Nebel liegt. Noch wissen wir aufgrund der nicht ausreichenden Daten sehr wenig über den klinischen Verlauf der Omikron-Variante in Deutschland. Wir brauchen in der veränderten Infektionslage mehr als je zuvor verlässliche Daten, auf deren Grundlage wir politische Entscheidungen treffen können. Als Klinikarzt möchte ich zudem hervorheben: Die Fokussierung allein auf die Intensivmedizin und deren Kapazitäten ist zu kurz gegriffen. Wenn wir derzeit sechsmal so viele Patienten auf Normalstationen liegen haben, dann ist deren Auslastung mindestens ein ebenso wichtiger Indikator dafür, wie belastet unser Gesundheitssystem ist.

Was heißt das konkret?

Wenn es in einer großen Klinik zum Beispiel 20 Covid-19-Patienten auf Intensiv- und weitere 120, also sechsmal so viele, auf Normalstation gibt, dann sind auch diese für die Klinik eine enorme Herausforderung: Sie müssen isoliert liegen, der Aufwand allein bei Hygiene und Desinfektion ist gewaltig. Wenn die Zahl der Normalpatienten also deutlich steigt, hat dies auch enorme Auswirkungen auf andere Stationen und das Personal.

Stationen müssen in Covid-Stationen umgewidmet werden, Personal fällt für die Versorgung anderer Patienten aus. Sollte es zutreffen, dass Omikron zu weniger Patienten auf den Intensivstationen und mehr auf den Normalstationen führt, dann gibt es eine große Gefahr: Weil wir so auf die Intensivkapazitäten fokussiert sind, liegt es nah, zu früh nach Lockerungen zu rufen. Tatsächlich laufen die Normalstationen aber voll, was die Kliniken ebenso an ihre Belastungsgrenze bringen könnte. Die Lehre aus der Pandemie muss aber sein: Wir haben durch eine gute Datenerhebung eine große Chance, politische Entscheidungen zu überdenken und zu treffen – auf der Grundlage von Fakten, nicht von Spekulationen.

Das Gespräch führte Christian Kunst

Welche Lehren man aus den Erfahrungen der deutschen Omikron-Hochburgen ziehen kann

In den früh von Omikron getroffenen Städten Bremen und Hamburg kommen Kliniken trotz steigender Patientenzahlen bislang ohne größere Probleme durch die Infektionswelle. Sorge bereitet, dass immer mehr Patienten mit Corona infiziert sind, die nicht wegen Covid-19, sondern aus anderen Gründen eingeliefert wurden. Dies macht die Behandlung auf den Normalstationen aufwendiger. Auch der Ausfall von Personal durch Krankheit oder Quarantäne bereitet Probleme.

Bremen und Hamburg gehörten zu den ersten Großstädten, in denen die Fallzahlen explodierten. Was die Infektionsrate angeht, sind sie anderen Regionen etwas voraus. Vergleiche sind aber nur eingeschränkt möglich, weil die Stadtstaaten auch zu den Spitzenreitern bei den Impfquoten gehören. Das dürfte schwere Verläufe seltener machen. Bundesweit ist die Belegung der Normalstationen vergangene Woche laut Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) um 3,5 Prozent gestiegen.

In Schleswig-Holstein liege das Plus bei 22 Prozent, in Hamburg, Bremen und Berlin zwischen 10 und 15 Prozent. „Belastung ja, Überlastung nein“, sagte ein Sprecher der Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) zur Lage der Kliniken. „Die Lage ist handhabbar“, sagt Prof. Stefan Kluge, Leiter der Klinik für Intensivmedizin am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf:

„Die gute Nachricht ist, dass aktuelle Daten aus unterschiedlichen Ländern zeigen, dass das Risiko, mit einer Omikron-Infektion ins Krankenhaus zu müssen, im Vergleich zur Delta-Variante um mehr als die Hälfte reduziert wird.“ Omikron sei viel leichter übertragbar, führe aber besonders bei Geboosterten in allen Altersgruppen nicht zu so schweren Verläufen. „Wir sehen etwa seit Anfang des Jahres eine deutliche Zunahme an stationär behandlungsbedürftigen Patienten“, sagt Florian Friedel, Geschäftsführer des Delme-Klinikums in Delmenhorst. Die Stadt nahe Bremen hat in Niedersachsen die höchste Ansteckungsrate. „Wir beobachten, dass die Patienten, die wir derzeit versorgen, weniger schwer erkrankt sind und die durchschnittliche Verweildauer geringer geworden ist.“

Bei den Bremer Klinikeinweisungen Infizierter sei nur etwa ein Drittel tatsächlich an Covid-19 erkrankt, heißt es im Gesundheitsressort. Zwei Drittel der Patienten kämen wegen anderer Diagnosen und seien zusätzlich infiziert. Allerdings: „Mit Corona infizierte Patienten können einen ähnlich hohen Aufwand verursachen wie tatsächlich an Covid-19 Erkrankte“, sagt der DKG-Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß. Sie müssten isoliert untergebracht werden. Das Personal, das sie betreue, könne nicht in Bereichen mit Nichtinfizierten eingesetzt werden.

Corona-Virus in Rheinland-Pfalz
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