Jagd auf die Täter: Eine Stadt in Angst

Spektakuläre Verfolgung: Spezialeinheiten haben sich mit den mutmaßlichen Bombenlegern eine stundenlange Verfolgung geliefert. Mindestens ein Polizeibeamter starb dabei.
Spektakuläre Verfolgung: Spezialeinheiten haben sich mit den mutmaßlichen Bombenlegern eine stundenlange Verfolgung geliefert. Mindestens ein Polizeibeamter starb dabei. Foto: dpa

Dschochar Tsarnajew war noch ein Kind, als er mit seinen Eltern und drei Geschwistern nach Boston übersiedelte. Wo die Familie, tschetschenischen Ursprungs, zuvor gelebt hatte, in Kasachstan oder der nordkaukasischen Republik Dagestan, dazu kursieren widersprüchliche Angaben. Jedenfalls scheint sich der acht Jahre alte Neuamerikaner, zumindest nach dem äußeren Schein, problemlos eingelebt zu haben in der neuen Heimat.

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Englisch, den Bostoner Dialekt mit seinen langgezogenen Vokalen, sprach er bald fließend. An seiner Schule, der Rindge & Latin School im Vorort Cambridge, scheint er beliebt gewesen zu sein. Dschochar, so schildern ihn frühere Klassenkameraden, lächelte freundlich, wurde nie laut und gab sich gern cool. Er trug Turnschuhe und häufig eine Baseballkappe, wie es üblich ist unter lässigen amerikanischen Kindern.

Die Trainerin der Volleyballmannschaft, für die er spielte, bevor er zum Ringen wechselte, lobt ihn als netten, humorvollen Teenager. Wann er radikales Gedankengut aufsaugte, ob er die Sprengsätze beim Marathon überhaupt aus politischen Motiven zündete, ob er allein im Bund mit seinem Bruder handelte oder im Auftrag einer Terrorzelle, ob es ein Netz von Komplizen gibt, ein in- oder ein ausländisches – es sind Fragen, auf die ein ratloses Land Antworten sucht.

Spektakuläre Verfolgung: Spezialeinheiten haben sich mit den mutmaßlichen Bombenlegern eine stundenlange Verfolgung geliefert. Mindestens ein Polizeibeamter starb dabei.
Spektakuläre Verfolgung: Spezialeinheiten haben sich mit den mutmaßlichen Bombenlegern eine stundenlange Verfolgung geliefert. Mindestens ein Polizeibeamter starb dabei.
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Umzingelt von Polizeibeamten

Fest steht wohl nur, dass sich der 19-Jährige am Freitag in einer Wohnung im stillen Watertown verbarrikadierte, umzingelt von einem Riesenaufgebot an Polizisten. Selbst das aber stand eine Zeit lang in Zweifel. Am frühen Freitagmorgen ließen die Behörden einen Fernzug von Boston nach New York stoppen, weil es Hinweise gab, nach denen Dschochar Tsarnajew in einem der Waggons sitzen könnte. Sein Bruder Tamerlan, der zweite mutmaßliche Bombenleger, sieben Jahre älter als er, war zu diesem Zeitpunkt bereits tot.

Vorausgegangen war ein Drama, das das Getriebe einer pulsierenden Millionenmetropole de facto zum Stillstand brachte. Auf die Mithilfe der Bevölkerung bauend, hatte das FBI am Abend zuvor ein kurzes Video freigegeben. Aufgenommen von einer Überwachungskamera, zeigt es die zwei Verschwörer am Montag auf dem Bürgersteig der Boylston Street, unweit der Ziellinie des Marathons. Tamerlan trägt darauf einen Rucksack, Dschochar eine prall gefüllte Sporttasche. Dass er die Tasche kurz darauf vor einem Restaurant abstellte, fügte der leitende FBIDetektiv noch hinzu.

Über eine provisorisch aufgestellte Leinwand, wie zeitgleich auch über Millionen von Fernsehbildschirmen, flimmerten leicht verschwommene Bilder. Dennoch waren sie eindeutig genug, um das Duo zu identifizieren. Von da an müssen die beiden gewusst haben, dass Nachbarn oder Bekannte sie demnächst erkennen und anzeigen würden. Kurz nach 22 Uhr Ortszeit am Donnerstagabend überfielen sie einen kleinen Supermarkt in Cambridge, einer lauschigen Satellitenstadt, die ganz im Zeichen zweier Eliteschmieden steht, der Harvard University und des Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Wenige Minuten später erschossen sie auf dem Campus des MIT den Wachmann Sean Collier, der im Schichtdienst in seinem Streifenwagen saß. Danach hielten die Flüchtenden, anscheinend mit vorgehaltener Waffe, einen Mercedes an und nahmen dessen Fahrer vorübergehend als Geisel, ehe sie ihn an einer Tankstelle laufen ließen und mit dem gestohlenen Wagen nach Westen rasten, in Richtung Watertown. Was folgte, war eine filmreife Verfolgungsjagd. Nach Darstellung der Ordnungshüter, die dem Bruderpaar auf den Fersen waren, flogen mehrmals Handgranaten aus dem offenen Autofenster. Mehrfach kam es zu Schusswechseln.

Ein Beamter der Bostoner Transportpolizei, Richard Donahue, wurde dabei lebensgefährlich verletzt, Tamerlan Tsarnajew wurde tödlich getroffen, nach offizieller Version, als er ausstieg und mit einem Sprengsatz auf die Polizisten zustürmte. Tamerlan starb in einem Krankenhaus, dem Beth Israel Deaconess Medical Center, und hinterher war von einem an seinem Körper befestigten Zünder eines Sprengsatzes die Rede. Dschochar, weiterhin auf der Flucht, verschanzte sich offenbar in Watertown, was dazu führte, dass sich der stille Vorort urplötzlich in eine belagerte Festung verwandelte.

Peter Jennings, ein Anwohner, wurde während der dramatischen Jagd auf die Täter von einem Knall aus dem Schlaf gerissen. „Ich blickte aus dem Fenster und sah etwas, was ich nie zuvor gesehen hatte“, schilderte er dem „Boston Globe“. „Blaulicht an Blaulicht an Blaulicht. Und gerochen hat es wie nach einem Feuerwerk.“

Adam Healy rauchte gerade eine Zigarette, als er die Schüsse hörte, „tonnenweise Flintenschüsse“. „Dann sah ich, wie etwas explodierte, ich sah einen Lichtblitz am Himmel.“ Wer Suburbia sucht, das klassische amerikanische Vorstadtmilieu mit seinen weißen Gartenzäunen und ausladenden Grillgeräten im Hof, der wird in Watertown fündig. Die Straßen sind nach Bäumen und Sträuchern benannt, Cypress, Hazel, Laurel – Zypresse, Haselnuss, Lorbeer. Wer hier wohnt, zählt sich zur Mittelschicht. Es ist eine kleine, eine überschaubare Welt, halb idyllisch, halb langweilig und spießig, die der Terroralarm über Nacht auf den Kopf stellte.

Spezialeinheiten in den Straßen

Rund 20 hermetisch abgeriegelte Straßenzüge. Spezialeinheiten, manche in schwarzen, manche in gescheckten Uniformen, einige Männer mit vermummten Gesichtern, die Maschinenpistolen im Anschlag. „Bleiben Sie in Ihren Häusern, gehen Sie in Ihre Keller, verriegeln Sie Türen und Fenster. Machen Sie keinem auf, der sich nicht als Polizist ausweisen kann“, mahnte Deval Patrick, der Gouverneur von Massachusetts.

Noch vor Beginn der morgendlichen Rushhour wies Patrick an, den öffentlichen Nahverkehr in der Region Boston komplett einzustellen, weder die U-Bahn noch Pendlerzüge noch Busse fahren zu lassen. An den Universitäten der Region fielen sämtliche Vorlesungen und Seminare aus.