Berlin

Gedenkfeier: „Wir durften nicht Opfer sein“

Ihre Väter wurden von Neonazis getötet, jahrelang blieben die Morde unaufgeklärt: Gamze Kubasik (links) und Semiya Simsek sprachen bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer vor 1.200 Gästen über ihren Schmerz.
Ihre Väter wurden von Neonazis getötet, jahrelang blieben die Morde unaufgeklärt: Gamze Kubasik (links) und Semiya Simsek sprachen bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer vor 1.200 Gästen über ihren Schmerz. Foto: DPA

Drei Wünsche hat der Vater, dessen Sohn am 6. April 2006 in seinem Internetladen in Kassel von einem Neonazi getötet wurde. Er will, dass die Mörder und ihre Helfershelfer bestraft werden, dass die Straße, in der sein Kind Halit starb, künftig dessen Namen trägt. Und dass ein Preis ausgeschrieben wird, der immer wieder an die zehn Opfer der Mordserie der Zwickauer Terrorzelle erinnert.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Berlin – Drei Wünsche hat der Vater, dessen Sohn am 6. April 2006 in seinem Internetladen in Kassel von einem Neonazi getötet wurde. Er will, dass die Mörder und ihre Helfershelfer bestraft werden, dass die Straße, in der sein Kind Halit starb, künftig dessen Namen trägt. Und dass ein Preis ausgeschrieben wird, der immer wieder an die zehn Opfer der Mordserie der Zwickauer Terrorzelle erinnert.

Ismail Yozgat spricht seine Wünsche leise, auf Türkisch. Er klingt sanft, nicht verbittert, nicht einmal wütend auf eine Justiz, die beim Tod seines Sohnes so lange in die falsche Richtung ermittelt hatte.

Als die Übersetzerin seine letzten Sätze für die 1200 Gäste der Gedenkfeier in Berlin spricht, brandet spontan Beifall auf. Mit wenigen Sätzen hat der ältere Herr allen im Saal das Geschehene begreifbar gemacht.

Seine und viele andere Familien waren Opfer rassistischer Gewalt geworden – und alle gesellschaftlichen Instanzen zur Aufklärung und Wiedergutmachung haben über ein ganzes Jahrzehnt versagt. In den vergangenen Wochen war die zentrale Gedenkfeier, die bereits wenige Tage nach Bekanntwerden der Taten im November politisch versprochen worden war, fast völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden.

Christian Wulff, noch vor einer Woche Bundespräsident, hatte die Gespräche mit den Angehörigen der Opfer geführt, unter seiner Regie war die Feier organisiert worden. Jetzt war er nicht einmal mehr dabei. „Wir sind seine Gäste“, sagt der Vater unumwunden. Es klingt wie ein kleiner Seitenhieb in Richtung derer, die da vor ihm sitzen.

Kein Platz für Politik

Aber Politik hat hier heute keinen Platz. Nicht einmal Wulffs designierter Nachfolger Joachim Gauck wird von Prominenz umringt. Viele suchen stattdessen das Gespräch mit den Familien der Opfer. Noch Tage zuvor war über Sinn und Zweck der Feier gestritten worden. Sie finde zu spät statt, sie finde zu früh statt, hatte es abwechselnd geheißen. Und die Frage, ob man den Familien damit überhaupt gerecht werden könne, stand sowieso immer im Raum.

Die Feier im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, einem der würdigsten Säle, die die Hauptstadt zu bieten hat, räumt Zweifel beiseite. Ab 10.30 Uhr halten Politik und Zivilgesellschaft für eine Stunde inne und richten ihren Blick ausschließlich auf die Opfer und ihre Familien. Gefühl und Anteilnahme stehen im Mittelpunkt. Von leeren Politphrasen keine Spur.

Das Orchester der Universität der Künste spielt ein behutsames Violinkonzert von Johann Sebastian Bach, dazu tragen Schüler zwölf Kerzen auf eine Bank inmitten der Bühne. Zehn für die Opfer, eine elfte für alle Opfer rechtsextremer Gewalt, eine zwölfte für die Hoffnung, dass die im Grundgesetz festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen die Grundlage des Zusammenlebens bleibt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt.

Sie war erst am Freitag, mit dem Rücktritt Christian Wulffs, plötzlich zur Rednerin der Gedenkfeier geworden. Und sie macht ihre Sache gut: Sie gibt den Opfern ein Gesicht, indem sie ihre Namen, ihr Alter, ihre Lebenssituation nennt. Sie warnt vor „Gleichgültigkeit, die Risse durch unsere Gesellschaft treibt“. Sie bittet um Verzeihung dafür, dass Angehörige der Getöteten über Jahre selbst im Fadenkreuz der Ermittlungen standen. All das könne niemand ungeschehen machen.

„Aber wir fühlen mit ihnen“, sagt die Kanzlerin. Sie findet ungewöhnlich deutliche Worte. Zu ihrer Arbeit als Kanzlerin gehört es auch, sich zuweilen Bekennervideos terroristischer Gewalttäter anzusehen, sagt sie. Auch das Video der Zwickauer Zelle. „Etwas Menschenverachtenderes habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen.“ Es sei „ein Anschlag auf unser Land“, „eine Schande für unser Land“, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft verfolgt würden.

Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen am Anfang einer schleichenden Verrohung, mahnt die Kanzlerin. Zum Schluss ihrer Rede sucht sie nach einenden Worten. „Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten.“ Viele Besucher werden anschließend erzählen, dass sie beeindruckt waren von den Worten der Kanzlerin.

Berührend auch das Stück des türkischen Komponisten Cemal Resit Rey, das ihren Worten folgt. Verzweiflung, Angst, Trauer und neuer Mut kommen in der Musik zum Ausdruck. Der türkisch-stämmige Schauspieler Erol Sander und die Schauspielerin Iris Berben tragen Gedichte vor.

Viel Gefühl, kein Kitsch

Sanfte Worte des türkischen Dichters Ahmet Muhip Diranas („Schnee“) etwa, mahnende Worte von Erich Fried („Wenn ich mich an den Anfang gewöhne, fange ich an, mich an das Ende zu gewöhnen“), von Bertolt Brecht („Bitten der Kinder“) und versöhnende Worte von Josef Reding („Friede“).

Es hätte vieles kitschig geraten können. Doch auch Sharon Phillips gesungener Traum John Lennons von einer friedlichen Welt („Imagine“) wirkt authentisch.

„Ich möchte seelischen Beistand“, eröffnet anschließend der Vater Ismail Yozgat seine Ansprache mit den drei Wünschen. Und Semiya Simsek, die ihren Vater verlor, fragt: „Wir durften nie Opfer sein, können Sie ahnen, wie sich das für mich angefühlt hat?“ Viele im Saal haben nun etwas davon begriffen.

Von Rena Lehmann