Rheinland-Pfalz

Familie: Was Kinder „schwierig“ macht

In Wilhelm Buschs Geschichten sind die Streiche von Max und Moritz unterhaltsam. Doch was, wenn das eigene Kind abweichendes Verhalten zeigt? Wo hört der Spaß auf?Foto: Dt. Museum für Karikatur
In Wilhelm Buschs Geschichten sind die Streiche von Max und Moritz unterhaltsam. Doch was, wenn das eigene Kind abweichendes Verhalten zeigt? Wo hört der Spaß auf? Foto: Dt. Museum für Karikatur

Nennen wir sie Marvin und Mia. Mit Marvin war es nie einfach. Er ist laut, ungestüm und impulsiv. Im Kindergarten ging er noch als Wildfang durch. Aber in der Schule eckt er an. Stillsitzen ist seine Sache nicht. Und sich auf etwas zu konzentrieren, fällt ihm schwer. Da macht er lieber den Kasper.

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Von unserer Redakteurin Angela Kauer

Und Mia? Sie ist ein ruhiges Kind, lebt in ihrer eigenen Welt. Eine schüchterne Träumerin. Aber manchmal wirkt sie auch antriebslos. Über ihre Träumereien vergisst sie, auch mal zuzuhören. Selbstständig eine Aufgabe anpacken würde sie nie. Marvin und Mia sind frei erfunden. Aber Kinder wie sie gibt es in immer mehr Schulklassen in Rheinland-Pfalz. Darauf deuten die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen des Schuljahres 2013/14 hin.

Diagnose: verhaltensauffällig. In den Kreisen Rhein-Hunsrück und Birkenfeld trifft sie auf jedes fünfte Kind zu, in den Kreisen Neuwied und Mayen-Koblenz ist es etwa jedes vierte. Im Kreis Bad Kreuznach ist beinahe die Hälfte (44 Prozent) aller künftigen Erstklässler betroffen. Sie können sich schlecht konzentrieren, sind unruhig, aggressiv, verweigern die Mitarbeit oder sind auffallend schüchtern. Viele der Amtsärzte, die die Schuleingangsuntersuchungen vornehmen, sprechen von einer „steigenden Tendenz“. Die sieht auch Monika Reif-Wittlich. Sie ist die Vorsitzende des Vereins Juvemus, einer Selbsthilfegruppe, die betroffenen Familien zur Seite steht, an die sich aber auch Lehrer wenden können, die auffällige Kinder unterrichten. Als solche kennt sie einige der Gesichter hinter den Zahlen.

Kleiner Auslöser, große Wirkung

Eltern rät sie, nicht gleich in Panik zu verfallen: „Alle Kinder sind einmal traurig, alle Kinder können aufgedreht, unkonzentriert oder aggressiv sein.“ Manchmal haben kleine Auslöser eine große Wirkung: „Vielen Kindern fällt es zum Beispiel schwer, zu Unterrichtsbeginn zur Ruhe zu kommen“, erläutert Reif-Wittlich. Spricht ein Lehrer das bei den Eltern an, stellt sich heraus, dass die Kinder immer zur Schule gefahren werden. „Sie haben keine Gelegenheit, sich auf dem Schulweg schon mal mit ihren Freunden zu unterhalten.“

Helfen kann es dann, wenn der Lehrer diesem Bedürfnis zu Beginn des Unterrichts einige Minuten Raum gibt – oder aber die Eltern ihr Kind nicht direkt vor der Schule absetzen, sondern es ein kleines Stück des Weges mit seinen Freunden gehen lassen. So leicht aus der Welt schaffen lassen sich Probleme aber selten.

Wann spricht man von Verhaltensauffälligkeit?

„Um herauszufinden, weshalb das Kind nicht zurechtkommt, ist vor allem eine genaue Anamnese notwendig“, sagt Reif-Wittlich. Erst, wenn sich bestimmte Verhaltensweisen über längere Zeit konstant oder in besonders starker Ausprägung zeigen, könne man von einer Verhaltensauffälligkeit sprechen.

Meist verbirgt sich dahinter ein Zusammenspiel unterschiedlicher Probleme: Überforderung, zu hohe Leistungsansprüche, Wahrnehmungsstörungen, Überbehütung, die Entwicklungsschritte und Selbstständigkeit verhindern kann, emotionale Reifeverzögerung und familiäre Spannungen. Sehr oft, sagt Reif-Wittlich, versuchen Kinder, mit ihrem abweichenden Verhalten Zuneigung und Aufmerksamkeit zu erlangen. „Auffälligkeiten sind als Zeichen zu sehen, dass das Kind Probleme hat“, sagt sie. Dabei ist nicht jede Auffälligkeit auch gleich eine psychische Störung und entsprechend behandlungsbedürftig. Fast immer aber gilt: Beim Kind allein liegt die Ursache für auffälliges Verhalten nicht.

Leidensdruck ist spürbar

Professionelle Hilfe sollten sich Eltern dann holen, wenn sie einen Leidensdruck auf die Familie oder das Kind feststellen. Etwa, wenn die Hausaufgaben mit Marvin zum alltäglichen „Hausfriedensbruch“ werden, weil er dauernd abgelenkt ist und schließlich einen Wutanfall bekommt. Oder wenn die Klassenkameraden anfangen, Träumerin Mia auszuschließen und zu hänseln – und das zum Dauerzustand wird.

Was sich Eltern in einer solchen Situation von der Institution Schule wünschen? „Sie hoffen auf Verständnis und dass die Lehrer ihr Kind nicht verurteilen oder abschreiben“, sagt Reif-Wittlich. Umgekehrt wünschen sich ihrer Erfahrung nach viele Lehrer, dass die Eltern offen mit ihnen sprechen – und Marvin oder Mia mit ihren Problemen nicht einfach in der Schule abladen.

Der Verein Juvemus mit Sitz im Kreis Mayen-Koblenz ist über die Internetseite www.juvemus.de zu erreichen. Bei akutem Beratungsbedarf steht Monika Reif-Wittlich auch unter der Rufnummer 02630/989 716 zur Verfügung.