Rheinland-Pfalz

Dr. Müller und die Leiden der jungen Ärzte: Sorgen um einen Berufsstand

Seine Nachfolge ist gesichert, die Zukunft von vielen Praxen im Land hingegen nicht (von links): Dr. Hans-Josef Müller, sein Schwiegersohn und Praxisnachfolger, der 43-jährige Internist Dr. Helmut Kittler, sowie Müllers 42-jähriger Sohn Ralf, der derzeit in der Hausärztlichen Notdienstzentrale im Kemperhof arbeitet. Müller senior macht die schlechten Arbeitsbedingungen verantwortlich für die Nachwuchsprobleme bei Landärzten.
Seine Nachfolge ist gesichert, die Zukunft von vielen Praxen im Land hingegen nicht (von links): Dr. Hans-Josef Müller, sein Schwiegersohn und Praxisnachfolger, der 43-jährige Internist Dr. Helmut Kittler, sowie Müllers 42-jähriger Sohn Ralf, der derzeit in der Hausärztlichen Notdienstzentrale im Kemperhof arbeitet. Müller senior macht die schlechten Arbeitsbedingungen verantwortlich für die Nachwuchsprobleme bei Landärzten. Foto: Sascha Ditscher

33 Jahre lang war Dr. Hans-Josef Müller Hausarzt im Koblenzer Stadtteil Güls. Sein Schwiegersohn Dr. Helmut Kittler führt seine Praxis fort, auch Müllers Sohn Ralf ist Arzt. Trotzdem macht sich Müller senior große Sorgen um die Zukunft seines Berufsstandes. Immer weniger junge Mediziner wollen auf dem Land praktizieren.

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Es liegt nicht am Geld, ist der 74-Jährige überzeugt, sondern an den schlechten Arbeitsbedingungen. Warum, das erklärt Müller, der bis heute als Obmann der Kreisärzteschaft Koblenz für 1540 Mediziner spricht und zugleich im Vorstand des Hausärzteverbandes sitzt, im Interview:

Laut Statistischem Bundesamt hat ein Allgemeinmediziner einen Bruttoverdienst von durchschnittlich 180 000 Euro pro Jahr. Ist das nicht Anreiz genug für junge Mediziner, sich als Hausarzt niederzulassen?

Man muss unterscheiden zwischen Umsatz und Verdienst. Und beim Umsatz gibt es große Unterschiede zwischen dem aus Kassen- und Privatpatienten. Eine einigermaßen gut gehende Allgemeinpraxis hat einen Umsatz von 40 000 bis 60 000 Euro pro Quartal – mehr als 200 000 Euro im Jahr. Es gibt Praxen, die einen Bruchteil davon haben, und welche, die deutlich über diesem Umsatz liegen.

Was bleibt davon übrig?

Die Personalkosten sind der größte Kostenfaktor. Das sind bei einer Durchschnittspraxis etwa 10 000 Euro pro Quartal. Für Altersvorsorge, Versicherung, Geräte, Raummiete und vieles mehr gehen noch mal 10 000 Euro ab, sodass etwa 30 000 Euro versteuert werden müssen. Im Monat bleiben so circa 4000 bis 6000 Euro netto übrig.

Nun gibt es aber viele Akademiker oder Facharbeiter, die zum Teil deutlich weniger verdienen.

Ja. Aber: Im Verdienst ist der Umsatz aus Privatversicherten enthalten. Das fehlt in einigen Praxen in der Stadt, auf dem Land sogar fast komplett. In Städten wie Koblenz haben wir in gut gehenden Praxen einen Anteil von etwa 5 bis 10 Prozent Privatpatienten. Bei den allermeisten Praxen decken die Einnahmen der Kassenpatienten gerade die Unkosten der Praxis. Alles darüber hinaus sind Erlöse durch Privatpatienten. Ich selbst habe Praxisvertretungen auf dem Land gemacht und war schier entsetzt: Hier in der Stadt hatte ich im Schnitt fünf bis zehn Privatpatienten pro Tag, auf dem Land habe ich keinen einzigen in 14 Tagen gesehen.

Was heißt das konkret für das Gehalt eines Landarztes?

Das entspricht in etwa dem eines Grundschullehrers. Das sind 3000 bis 4000 Euro netto. Dafür hat der Landarzt aber eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden pro Tag. Oft kommt auch noch die Nacht dazu. Faktisch muss der Landarzt rund um die Uhr für seine Patienten verfügbar sein. Und dies hat Folgen: Der Mangel an Hausärzten nimmt mittlerweile dramatische Formen an. Und die Zahl der jungen Menschen, die ein Medizinstudium beginnt, ist rückläufig.

Sind Sie deshalb als klassischer Hausarzt ein Auslaufmodell?

Mit Sicherheit. Zu meiner Zeit waren wir blauäugiger. Wir sind Arzt geworden und haben die Widrigkeiten irgendwie akzeptiert. Allerdings muss man sagen, dass die bürokratischen Zwänge und Arbeitsanforderungen für junge Kollegen heute unvergleichlich höher sind.

Was heißt das konkret?

Wir haben eine Umfrage unter jungen Medizinstudenten gemacht. 15 Prozent können sich vorstellen, Hausarzt zu werden. Von ihnen sind letztlich 5 Prozent Hausarzt geworden, und von ihnen wiederum nur ein ganz geringer Bruchteil Landarzt. Dann haben wir sie gefragt, was sie davon abgehalten hat, Haus- oder Landarzt zu werden. Die Antwort: Als wir während des Studiums in einer Praxis arbeiteten, haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit mit den Patienten eine schöne ist. Die Arbeitsbedingungen haben sie jedoch als schikanös empfunden. Ein überbordender, bürokratischer Arbeitsaufwand durch unzählige, häufig unsinnige und zeitraubende Vorschriften, die beachtet werden müssen, sowie unzählige Einzelverträge mit Kassen. Nahezu jeder Vertrag erfordert eine eigene Software, von den Kosten ganz zu schweigen. Viele Studenten hatten schon nach wenigen Wochen die Nase voll. Übrig geblieben sind interessanterweise die Studenten, deren Eltern schon mit einer Landarztpraxis zu tun hatten.

Was muss sich ändern?

Zunächst einmal wird sich mit mehr Geld nicht alles zum Guten wenden. Ein Kollege hat jüngst einen Weiterbildungsassistenten für eine Praxis in Prüm gesucht, also einen Arzt, der sich zum Hausarzt weiterbilden lässt. Obwohl der Kollege bereit war, monatlich einen hohen vierstelligen Betrag zu zahlen, ist die Suche erfolglos geblieben. Es geht daher aus meiner Sicht eher um die schlechten Arbeitsbedingungen. Die Politik muss die Hauptgründe angehen, die Mediziner abschrecken, sich niederzulassen.

Welche sind dies?

Erstens die Arbeitsbedingungen: 24 Stunden Verfügbarkeit, die ungeregelten Bereitschaftsdienste.

Die Kassenärztliche Vereinigung würde einwenden, dass es längst eine Regelung mit Bereitschaftsdienstzentralen gibt.

Ja. Aber nicht überall gibt es diese Zentralen. Und das führt dazu, dass Patienten nachts beim Hausarzt im Ort vor der Tür stehen. Keiner fährt in eine weit entfernte Bereitschaftsdienstzentrale, wenn der Arzt um die Ecke lebt. Und dann ist da die familiäre Belastung, die man nicht unterschätzen sollte. Die Kinder eines Landarztes haben oft einen weiten Weg zur Schule, Gleiches gilt für Kultur. Viele sagen sich: Wenn der Apotheker wegzieht oder Kinos verschwinden, warum soll ich bleiben? Da sind die Kommunen gefordert. Hinzu kommt, dass ein Hausarzt eine breite Qualifikation braucht. Ein Landarzt muss von allen Fachbereichen Ahnung haben: Dermatologie, Kindermedizin oder Chirurgie. Da fühlen sich viele überfordert, weil sie das Studium darauf nicht vorbereitet.

Was überfordert noch?

Die Bürokratie. Für manche Dinge in einer Arztpraxis ist der Antrag vom Antrag des Antrags erforderlich. Oder wenn für Behandlungen, seit Jahren durchgeführt, die Kassen plötzlich zusätzliche Nachweise fordern, dann stimmt etwas nicht. Sogar um Anträge ausfüllen zu dürfen, beispielsweise für einen Reha-Antrag, müssen Ärzte Kurse auf eigene Kosten besuchen. Das verschlingt Stunden, die eigentlich dem Patienten gehören. Oder Ärzte müssen Hunderte Diagnosen in sechs- oder achtstelligen Ziffernfolgen verschlüsseln. Wer dies nicht ordnungsgemäß tut, bekommt kein Geld für die Behandlung.

Oder wird in Regress genommen?

Ja. Die Behandlung soll laut Gesetz wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend sein. Die Politik erweckt aber der Eindruck, dass Patienten jede Behandlung zusteht. Tatsächlich werden wir jedoch exakt überprüft. Wer dann aus Kassensicht zu gut behandelt, muss damit rechnen im Nachhinein das eigentlich schon verdiente Geld wieder abgezogen zu bekommen. Beispiel Heilmittelregress: zu viel Krankengymnastik! Beispiel Arzneimittelregress: zu teuer behandelt! Da hilft es nur wenig, dass der Regress von der Großen Koalition auf 25 000 Euro für zwei Jahre begrenzt wurde. Das bleiben mehr als 1000 Euro pro Monat.

Wollen Sie keine Kontrolle?

Doch. Kontrolle muss sein. Der Arzt handelt aber doch in der Regel im Interesse des Patienten und wählt die bestmögliche Therapie. Doch er weiß nie, ob er dafür später bestraft wird. Die Regeln müssen daher klarer definiert werden, was erlaubt ist und was nicht. Doch da halten sich die Kassen gern bedeckt und pochen auf ihren Ermessensspielraum. Das alles führt zu einer großen finanziellen Unsicherheit. Und letztlich wird der Arzt auch von einigen Patienten in seiner Existenz bedroht.

Wie das?

Die Bereitschaft einiger Patienten, Ärzte zu verklagen, ist deutlich gestiegen. Wir haben noch keine Verhältnisse wie in den USA. Doch die Tendenz ist da.

Was kann die Politik da tun?

Wenn die Politik ein unbegrenztes Leistungsversprechen bei budgetierten Honoraren gibt, dann ist das beschämend unehrlich und verleitet Patienten eher zu Klagen. Man sollte das Anspruchsdenken nicht ständig fördern, ohne den Patienten auch eine Eigenverantwortung abzuverlangen.

Das heißt?

Die Politik sollte allen Patienten die Behandlungskosten wie bei Privatversicherten offenlegen. Dann könnten die Patienten selbst dazu beitragen, Leistungen nicht unbegrenzt in Anspruch zu nehmen, sondern nur so viele, die sie wirklich benötigen. Doch das scheuen die Kassen, weil die Patienten sehen würden, wie wenig Geld die Ärzte für eine Rundumversorgung bekommen. In der Regel sind dies 50 Euro pro Patient und Quartal.

Was kann noch helfen?

Wir haben im April einen hervorragenden Hausarztvertrag mit der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland abgeschlossen. Er sieht kein Regressrisiko mehr für Ärzte vor. Die Kassen müssen die Patienten besser über die Behandlungskosten informieren. Im Gegenzug müssen die Ärzte bei Patienten, die sich für ein Jahr bei der Praxis eingeschrieben haben, gesteigerte Qualitätsanforderungen erfüllen. Jeder Hausarzt muss ein EKG, ein Ultraschallgerät und weitere Technik haben. Zum Pflichtangebot gehören auch eine Abendsprechstunde oder eine am Samstag. Außerdem hilft der Arzt bei der Vermittlung von Facharztterminen. Unterm Strich steigt aber auch der Verdienst der Ärzte.

Der Hausarztvertrag als Mittel gegen den drohenden Ärztemangel?

Ja. Durch den Abschluss des Vertrags mit der AOK konnten wir im Raum Koblenz seit April mehr Ärzte gewinnen als in den vergangenen zwei Jahren. Das liegt auch am Inhalt der Vereinbarung: Es wird weiter über die KV abgerechnet. Deshalb brauchen die Ärzte keine eigene kostspielige Software. Das hat viele Kollegen überzeugt. Der Vertrag ist ein Argument, die Zahl der Ärzte besonders auf dem Land zu stabilisieren. Da ist aber auch die KV gefordert, die für viele Ärzte Teil des Problems ist.

Können Sie das erläutern.

Beispiel Koblenz-Güls: Der Stadtteil war mit drei Hausärzten bei 6000 Einwohnern gut versorgt. Seit Mai haben wir eine vierte Praxis mit zwei Ärzten. Viele Ärzte, nicht nur aus Güls, waren fassungslos. Denn die beiden Ärzte haben ihre Praxis im ohnehin unterversorgten Lehmen aufgegeben. Dort gibt es keinen Hausarzt mehr, während Güls schon vorher überversorgt war. Hier wäre die KV gefordert gewesen. Denn durch solch ein Vorgehen wird nicht nur das unterversorgte Gebiet in Lehmen weiter geschwächt, sondern auch das überversorgte Güls, weil sich hier jetzt mehr Ärzte die gleiche Zahl an Patienten teilen müssen.

Wie lässt sich dieses Stadt-Land-Gefälle verhindern?

Man darf nicht zulassen, dass sich in bereits gut oder überversorgten Gebieten weitere Ärzte niederlassen. Und die Politik muss zugleich Mediziner massiv fördern, die sich in ländlichen Bereichen ansiedeln möchten. Dafür müssen sich vor allem die Arbeitsbedingungen verändern. Für mich steht fest: Solange berufsfremde Laien die Gesundheitspolitik mit einem Schönreden der derzeitigen Lage, einer Problemverdrängung und einem Herumkurieren an Symptomen bestimmen und solange nicht verstärkt Experten gehört werden, die in diesem System arbeiten und mit dessen Mängeln vertraut sind, ist dieses Gesundheitssystem zum Scheitern verurteilt. Dann haben wir bald keine Haus- und besonders keine Landärzte mehr.

Das Gespräch führte Christian Kunst