Doppelleben mit Haus, Hund und HIV

Die Weltaidskonferenz in Wien rückt das Thema HIV wieder in die Köpfe. Viele haben dabei Bilder von Schwulen oder Fixern vor Augen, nicht aber von Bankkauffrauen und Lehrerinnen. HIV-positive Frauen sind bei uns unsichtbar und führen meist ein unscheinbares Doppelleben. Die Geschichte einer infizierten Frau aus Frankfurt zeigt, dass die Angst vor Aids auch die Mitte der Gesellschaft betrifft

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Frankfurt. An ihrem zweiten Leben liebt Theresa (43) die Normalität. Sie hat mit ihrem zweiten Mann in Osthessen ein Haus gebaut. Sie hat einen kleinen Sohn und einen Hund. Wenn sie „gut eingestellt„ ist, also die 20 Tabletten am Tag in ihrem Körper wirken, ist das erste Leben weit weg. Das Leben mit Aids.

Ihr erster Mann, ein Bluter, hatte in den 80er-Jahren verunreinigte Konserven bekommen und sie angesteckt. Damals war HIV noch ein Todesurteil. „Ich hab' all mein Geld vom Sparbuch abgehoben und wollte noch ein letztes Mal shoppen gehen“, erinnert sie sich an den Moment der Diagnose 1989. Vier Jahre später dann hatte Theresa, die ihren richtigen Namen nicht in den Medien lesen möchte, „Vollbild Aids„. Sie rang mit dem Tod, sie bekam eine Art Chemotherapie, verlor ihre blonden Haare, und ihre Mutter nahm sie zum Sterben mit nach Hause.

Die neuen Nachbarn wissen nichts von Theresas Krankheit, die man ihr – dank der Medikamente – nicht mehr ansieht. Sie sollen es auch nicht wissen. „Ich weiß nicht, wie man mit meinem Kind umgehen würde.“ Die Bankkauffrau im Frühruhestand erzählt den Nachbarn, dass sie bei einem Arzt arbeitet. In Wahrheit fährt sie alle drei Monate zum HIV-Center der Frankfurter Uni-Klinik zur Blutwerte-Kontrolle.

Aus Scham führen viele HIV-positive Frauen ein Doppelleben. In Deutschland sind sie praktisch unsichtbar. „HIV ist so was von in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und diese Gesellschaft sieht das nicht„, sagt Annette Haberl (48). Sie ist Ärztin am HIV-Center, spezialisiert auf die Betreuung von infizierten Schwangeren. Sie ist auch Theresas Ärztin.

Wer an HIV denkt, denkt an schwule Männer. Oder an Fixer und Prostituierte. „Es könnte die Nachbarin oder die Lehrerin der Kinder sein“, sagt Haberl. Zwar sind in Deutschland ohnehin nur 18 Prozent Frauen unter den HIV-Infizierten, aber von der Sichtbarkeit sind es noch weitaus weniger. Angesteckt haben sich die meisten beim Sex ohne Kondom, haben nur die Pille genommen. Die Diagnose bekommen viele in der Schwangerschaft.

Um etwas für die Wahrnehmung HIV-positiver Frauen zu tun, erarbeitete Haberl mit 14 Patientinnen und einer Fotografin auf einem Workshop eine Ausstellung. Der Titel: „Schön sein – Frauenbilder mit HIV„. Die Patientinnen posieren selbst, sie sehen aus wie attraktive Frauen von nebenan. Darunter ist auch Theresa. HIV ist für die oft alleinerziehenden Frauen ein Makel, das Selbstwertgefühl weg, das Virus durchdringt jeden Moment des Alltags. Die ästhetischen Bilder hängen nun auf den Fluren des HIV-Centers, frei für alle Besucher. Einige „Models“ zeigen mutig ihre Augen, auch wenn oft nur der engste Familienkreis Bescheid weiß; bei anderen sind die Augen überklebt.

Wenn man immer dieses Doppelleben führt, was geht da verloren von einem selbst? Und was geht auch für die anderen Menschen verloren? „Wir raten nicht zum Outing", betont Haberl.

Wer heutzutage HIV früh diagnostiziert und behandelt bekommt, kann eine annähernd so hohe Lebenserwartung wie ein Nicht- Infizierter haben. Und wenn die HIV-Infektion vor der Schwangerschaft bekannt ist, kann mit der optimalen Therapie das Risiko einer Ansteckung des Kindes auf unter zwei Prozent gesenkt werden. Rund 300 Geburten HIV-positiver Mütter gibt es jährlich in Deutschland. Zwischen 30 und 40 davon in Frankfurt – das dortige Spezialzentrum ist eines der wichtigsten in Deutschland.

Nachdem Theresas erster Mann vor elf Jahren an Aids gestorben war und sie ihren zweiten Mann kennenlernte, bestand das Leben endlich nicht mehr nur aus dieser Krankheit. Es begann, sich leichter anzufühlen. Theresa genießt heute den Moment. Eine Garantie dafür, wie lange es ihr so gut gehen wird, gibt es nicht. Ihr Mann und sie haben sich bewusst für ein Kind entschieden, auch wenn die Schwangerschaft riskant war, weil Theresa Medikamente absetzen musste und andere nicht gleich anschlugen. Um ihren Mann nicht zu gefährden, schliefen sie mit Kondom miteinander, das Sperma daraus wurde dann eingeführt.

Ihr Sohn, der bisher nur weiß, dass seine Mama viele, viele Pillen einnehmen muss, ist heute acht. Theresa hat zig Fotos von ihm im Portemonnaie. Ganz weit weg sind die Gedanken an ihr erstes Leben, als sie bei dem akuten Krankheitsausbruch eine geradezu bizarre Lüge erfand: Theresa erzählte ihren Kollegen und sogar einigen Familienmitgliedern, dass sie Leukämie habe. Immer wieder. So lange bis sie es sogar selbst glaubte.

Inga Radel