Auftakt für Pariser Jahrhundertprozess: Das sind die Menschen dahinter
Da kommt einer der jungen Männer auf sie zu, die den Ankommenden helfen sollen, sich in dem riesigen Justizpalast zurechtzufinden. Die Frau trägt einen Badge mit einem roten Halsband, das sie als eine der Nebenklägerinnen kennzeichnet, die nicht von Journalisten angesprochen werden wollen. Wer bereit ist, mit der Presse zu reden, trägt ein grünes Band. Die meisten haben Rot gewählt.
Fast 1800 Nebenklägerinnen und Nebenkläger wie sie treten beim „Jahrhundertprozess“ um die Terrorserie des 13. November 2015 in Paris auf, der am Mittwoch begonnen hat. Es handelt sich um Überlebende, Verletzte, Traumatisierte sowie Hinterbliebene der insgesamt 130 Opfer, die an jenem Abend getötet wurden. Das Gericht bemüht sich erkennbar darum, ihnen viel Raum zu geben.
Die ersten beiden Verhandlungstage sind allein dafür reserviert, jeden Einzelnen von ihnen aufzurufen. Fünf Wochen lang werden insgesamt rund 300 Opfer und Angehörige ihre Erlebnisse schildern. Während des ganzen Prozesses steht für die Betroffenen eine psychologische Betreuung bereit. 330 Anwältinnen und Anwälte sichern die Verteidigung ab. Bevor die Verhandlung beginnt, stehen Trauben an Frauen und Männern in schwarzen Roben zusammen und diskutieren. Für sie alle beginnt eine intensive Zeit.
Es handele sich um einen „außerordentlichen, einen historischen Prozess“, sagt der Präsident des Gerichts, Jean-Louis Périès, in einigen einleitenden Worten. „Denn die Fakten, die wir verhandeln werden, gehören zu den historischen Ereignissen dieses Jahrhunderts.“ Er weist auch darauf hin, dass die Verhandlung für das Staatsarchiv gefilmt wird. Das ist in Frankreich erst zum 13. Mal der Fall.
Tatsächlich sprengt der Prozess in vielerlei Hinsicht den bisherigen Rahmen. Zum einen durch die schiere Zahl der Betroffenen und Nebenkläger. Auch durch die Dauer: Achteinhalb Monate wird vor dem Spezialschwurgericht verhandelt. Herausragend ist zudem der Ort, denn der 750 Quadratmeter große Verhandlungssaal, der allein 550 Personen fassen kann, und die angrenzenden Säle, in die das Geschehen übertragen wird, wurden eigens für diesen Prozess innerhalb des historischen Baus des Justizpalastes für fast 8 Millionen Euro errichtet. Der Raum mit dem Mobiliar aus schlichtem, hellem Holz und den hohen, weißen Säulen an den Wänden wirkt nüchtern und feierlich zugleich.
Nicht zuletzt handelt es sich um einen außerordentlichen Prozess, weil es die Taten sind, um die es geht. 20 Männer sind angeklagt, mitverantwortlich zu sein für das immense Leid, den Terror, den Schrecken für die unmittelbar Betroffenen, aber auch für die ganze Stadt. In jener Nacht des 13. November 2015 fuhren zehn junge Männer, aufgeteilt in drei Teams, los, um zu morden. Monatelang war die Terrorserie, zu der sich der „Islamische Staat“ (IS) bekannt hatte, überwiegend aus Belgien und Syrien vorbereitet worden.
Den Auftakt machte ein Attentäter vor dem Sportstadion Stade de France im nördlich gelegenen Vorort Saint-Denis, wo die deutsche und die französische Fußballmannschaft gerade ein Freundschaftsspiel austrugen. Er zündete vor einem der Eingänge seinen Sprengstoffgürtel und riss einen Passanten mit sich in den Tod. Kurz darauf sprengten sich zwei weitere Männer in die Luft. Weitere Opfer gab es nicht. Zeitgleich waren zwei weitere Mordkommandos im Pariser Osten unterwegs. Eines von ihnen schoss auf Menschen auf den Terrassen von Cafés und Restaurants. 39 Menschen wurden getötet und etliche verletzt.
Derweil verübten drei weitere Terroristen in der Musikhalle Bataclan ein Blutbad, schossen in die Menge, zielten auf Einzelne und sogar vom ersten Stock aus auf Fliehende auf der Straße, bis Polizisten dem Horror kurz nach Mitternacht ein Ende setzten. Alle drei Terroristen starben. Möglicherweise könnten im Laufe des Prozesses Tonmitschnitte vom Inneren des Bataclan abgespielt werden. Sie dürften schwer erträglich sein.
Nur einer der zehn Männer, die an diesem Abend unterwegs waren, überlebte: Salah Abdeslam. Sein Sprengstoffgürtel, der später zwischen Sperrmüll im Süden von Paris gefunden wurde, war späteren Untersuchungen zufolge defekt, doch ob Abdeslam überhaupt versucht hat, ihn zu benutzen, erscheint unklar: Er selbst sagte mehreren Vertrauten, er habe im letzten Moment die Meinung geändert. Laut den Ermittlungen hat Abdeslam drei Selbstmordattentäter vor dem Stade de France abgesetzt, bevor er weiter allein in Paris unterwegs war und sich schließlich von Freunden abholen und nach Brüssel fahren ließ. Dort wurde er im März 2016 gefasst. Dieselbe Terrorzelle führte in den Folgetagen zwei Attentate auf den Flughafen und eine U-Bahn-Station in der belgischen Hauptstadt durch. 32 Menschen starben.
Der heute 31-jährige Abdeslam ist der bekannteste der 20 Angeklagten. Er lässt sofort durchscheinen, dass er keinen ideologischen Wandel durchgemacht hat. Im Gegenteil. Eigentlich soll er nur seine Personalien angeben, aber er will sofort etwas loswerden. „Als Erstes möchte ich sagen, dass es keine Göttlichkeit außer Allah gibt.“ Beim Sprechen nimmt er seinen Mund- und Nasenschutz ab, ein üppiger Bart wird sichtbar. „Das werden wir später sehen“, antwortet ihm Gerichtspräsident Périès. Als Abdeslam die Namen seiner Eltern nennen soll, widersetzt er sich. „Die Namen meiner Mutter und meines Vaters haben hier nichts zu suchen.“ Was sein Beruf sei? Er habe jeden Beruf hinter sich gelassen, um „Kämpfer des Islamischen Staates“ zu werden, sagt Abdeslam. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe. Seine Beteiligung an erster Front bei den Attentaten steht außer Zweifel. Abdeslam wurde bereits in Belgien zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er kurz vor seiner Festnahme auf Polizisten geschossen hatte.
Neben ihm sind weitere Schlüsselfiguren der Terrorzelle, die logistische oder finanzielle Hilfe geleistet, Waffen geliefert oder Unterkünfte bereitgestellt hatten, bei der Planung der Attentate beteiligt waren oder selbst als Kandidaten für Selbstmordanschläge galten. Außer Abdeslam antworten alle anwesenden Angeklagten auf die Fragen des Gerichtspräsidenten.
In zwölf Fällen fordert die Staatsanwaltschaft lebenslange Haftstrafen, in sechs weiteren 20 Jahre Haft. Gegen sechs Männer wird in Abwesenheit verhandelt: Einer der Männer ist in der Türkei inhaftiert, von fünf weiteren wird vermutet, dass sie im syrisch-irakischen Grenzgebiet ums Leben gekommen sind. Mehrere von ihnen hatten innerhalb der IS-Organisation hochrangige Posten inne.
Auf der Anklagebank säßen direkt Beteiligte, nicht nur unbedeutende Helfershelfer, sagte Arthur Dénouveaux, Präsident der Opfer- und Hinterbliebenenvereinigung „Life for Paris“, im Vorfeld. „Wir haben Leute aus der ersten Reihe vor uns, die in vollem Ausmaß zur Verantwortung gezogen werden können und müssen.“ Beim Prozess um die Attentate gegen das Satiremagazin „Charlie Hebdo“, eine Polizistin und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, der Ende des vergangenen Jahres lief, lag die Schwierigkeit darin, dass die drei Haupttäter tot sind. Viele der Angeklagten, die ihnen entscheidende Unterstützung zukommen ließen, hatten versucht, sich herauszureden: Sie hätten nichts von den mörderischen Projekten gewusst. Kurz nach dem Auftakt des Prozesses um die Attentate von Januar 2015 stach ein Mann vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude von „Charlie Hebdo“ mit einem Fleischermesser auf zwei Menschen ein und verletzte diese schwer.
Aus Vorsicht gibt es nun eine Sicherheitszone um den Justizpalast in Paris. Ein großes Aufgebot an Polizisten ist hier aufgestellt, die alle Zugänge zu dem Palais auf der Seine-Insel absichern. Bis 25. Mai 2022 werden sie hier bleiben. Dann werden die Urteile erwartet.
Als Erstes möchte ich sagen, dass es keine Göttlichkeit außer Allah gibt.
Das sagte der Angeklagte Salah Abdeslam im Pariser Jahrhundertprozess.