Rheinland-Pfalz

AOK-Chef: Bürger müssen für Röslers Reform bluten

Der rheinland-pfälzische AOK-Chef Walter Bockemühl gibt sich gern als Vordenker und Tabubrecher. Auch diesmal überrascht er im Interview mit unserer Zeitung durch einen gewagten Vorstoß: Eine Rationierung von medizinischen Leistungen, wie sie bislang nur Ärzte vorschlagen, hält er für sinnvoll. An der Politik von Gesundheitsminister Philipp Rösler lässt er indes kein gutes Haar.

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Rheinland-Pfalz – Der rheinland-pfälzische AOK-Chef Walter Bockemühl gibt sich gern als Vordenker und Tabubrecher. Auch diesmal überrascht er im Interview mit unserer Zeitung durch einen gewagten Vorstoß: Eine Rationierung von medizinischen Leistungen, wie sie bislang nur Ärzte vorschlagen, hält er für sinnvoll. An der Politik von Gesundheitsminister Philipp Rösler lässt er indes kein gutes Haar.

Wer ist für Sie der Gewinner der „Gesundheitsreform„?

Eindeutig Pharmaindustrie und private Krankenversicherung. Die Pharmaindustrie bekommt alle Freiheiten, die sie sich gewünscht hat. Die gesetzlichen Kassen sollen jetzt sogar die Unzweckmäßigkeit eines Arzneimittels beweisen. Wenn sie das nicht können, wird das Mittel zugelassen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Denn die Unzweckmäßigkeit eines Arzneimittels kann nie bewiesen werden. Darüber hinaus werden die Rabattverträge beschnitten. Das führt allein bei den Ortskrankenkassen zu einem Einnahmenverlust von 700 Millionen Euro.

Wozu führt das?

Den Patienten wird dadurch nicht geholfen. Es führt letztendlich dazu, dass Gelder im Gesundheitswesen verschwendet werden, die wir an anderer Stelle dringend benötigen würden. Zahlen wird letztendlich der Versicherte durch massive und flächendeckende Zusatzbeiträge.

Wird die AOK 2011 Zusatzbeiträge erheben?

Nach derzeitigem Stand müssen wir weder 2010 noch 2011 Zusatzbeiträge erheben. Wir haben derzeit eine gute finanzielle Entwicklung. Außerdem wird der Beitragssatz 2011 ja auf 15,5 Prozent angehoben.

Wie müssten die Preise von Arzneimitteln aus Ihrer Sicht künftig festgelegt werden?

Ich würde die Wirksamkeit und Innovation eines Arzneimittels auf den Prüfstand stellen. Wenn es tatsächlich innovative Medikamente sind, die in der Therapie für Fortschritte sorgen, dann sollten diese Arzneimittel gut bezahlt werden. Heute haben wir aber massenhaft Scheininnovationen, die in ihrer therapeutischen Wirkung kein Deut besser als vorhandene Medikamente sind. Diese Scheininnovationen sind erheblich teurer als bereits auf dem Markt befindliche gut wirksame Medikamente, und müssen von den Kassen bezahlt werden. In diesem Bereich könnten wir sieben bis acht Milliarden Euro sparen, wenn die Kassen nur für wirksame Arzneimittel auch die Kosten übernehmen müssten und keine neuen Medikamente mit überhöhten Preisen ohne nachgewiesenen innovativen Fortschritt in den Markt gebracht würden.

Wachsen private und gesetzliche Versicherungen bald zusammen?

Die Bundesregierung sorgt derzeit für das Gegenteil. Dadurch dass Versicherte künftig wieder schneller zu einer privaten Kasse wechseln können dürfen, entsteht eine enorme Belastung für die gesetzlichen Kassen. Uns fehlen dann jährlich Beitragseinnahmen in Höhe von 400 Millionen Euro. Und dieses Geld fehlt uns dann für die Versorgung einer immer älter werdenden Bevölkerung. Es ist problematisch, dass man elitäre zulasten von kollektiven Systemen bevorteilt, ohne dass dies für die Gesamtbevölkerung zu einer besseren Versorgung führt. Der umgekehrte Weg wäre eigentlich sinnvoller.

Warum tut die Bundesregierung dies?

Das gäbe nur Sinn, wenn die Bundesregierung langfristig eine ausschließlich private Krankenversicherung einführen wollte. Daran würde sie allerdings scheitern. Eine alternde Bevölkerung ausschließlich privat zu versichern wäre nicht finanzierbar. Schließlich haben die Privaten ja schon jetzt ein Problem mit ihrer älter werdenden Versichertenstruktur. Alte Menschen müssen dort eine deutlich höhere Beitragsbelastung hinnehmen als in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Faktisch spüren die Patienten schon die Folgen des Arztmangels und einer Zweiklassenmedizin. Wie lässt sich das regeln, wenn wir gleichzeitig Kosten einsparen müssen?

Das, was Sie beschreiben, ist eine Folge davon, dass wir verzweifelt an überkommenen Strukturen festhalten. Wenn wir die vertraglichen Freiheiten hätten, die uns der Gesetzgeber derzeit nicht zugesteht, könnten wir in bestimmten Regionen Verträge mit einzelnen Ärzten, Ärztenetzen oder Krankenhäusern abschließen. Damit könnten Überversorgungen in Ballungsgebieten abgebaut werden und entsprechende Versorgungsstrukturen in ländlichen Bereichen erhalten/verbessert werden. Aber auch nicht jedes Krankenhaus in ländlichen Regionen muss zwingend erhalten werden. .Das heißt aber nicht, dass diese Krankenhäuser ersatzlos wegfallen würden – denn Ärztenetze oder Versorgungszentren würden an ihre Stelle treten. Zu dieser Versorgungsstruktur würden auch ambulante Pflegedienste und nicht nur speziell hoch qualifizierte Pflegehilfsberufe als „Kümmerer“ gehören. Sie könnten sich als erstes um die Patienten kümmern und ausloten, ob überhaupt ein Arzt besucht werden muss und diesen dann auch organisieren. Außerdem könnte man die teilweise überhöhte Zahl von Fachärzten in Ballungsgebieten ebenfalls abbauen und durch vertragspolitische Instrumente eine entsprechende Versorgung in ländlichen Bereichen sicherstellen.

Würde das nicht noch mehr Geld kosten?

Es würde nicht mehr Geld kosten, wenn damit sichergestellt ist, dass die Patienten regelmäßig betreut werden. So könnte der Einsatz von Spitzenmedizin durch den Rettungsdienst oder in Krankenhäusern reduziert werden. Anstatt die Kliniken zu einer medizinisch nicht nötigen Vollbelegung ihrer Betten zu nötigen, könnten wir dieses Geld in lokale Versorgungsnetze umlenken, um die Patienten in ihrem häuslichen Umfeld zu versorgen.

Warum schließen Sie dann keinen Hausarztvertrag ab?

Die Verträge, die jetzt auf dem Tisch liegen, erhöhen die Honorare der Ärzte, ohne dass sich an der Qualität der medizinischen Versorgung etwas ändert. Abenteuerlich wird es, wenn die Ärzte kontaktunabhängige Pauschalen, das heißt, dass der Arzt für jeden Patienten, der sich in einen solchen Vertrag eingeschrieben hat, Geld bekommt, egal ob sich der Patient behandeln lässt oder nicht. Ich möchte, dass die Ärzte für ihre Arbeit gut bezahlt werden. Dann erwarte ich aber auch eine gute Leistung bei der Behandlung unserer Versicherten.

Die Ärzte wollen Leistungen rationieren und nur noch gegen Vorkasse behandeln. Was halten Sie davon?

Eine sinnvolle Rationierung ist nicht schlecht. Es ist sinnvoll, medizinisch nicht notwendige Leistungen, die wir in erheblichem Maße haben, abzubauen. Dazu gehören viele Überweisungen und MRT-Untersuchungen, die gar nicht notwendig sind, weil die Diagnose längst klar ist. Es ist bekannt, dass in vielen Fällen die Notwendigkeit für Behandlungen beziehungsweise Operationen fehlt.

Was ist mit der Hüftprothese für die 85-Jährige?

Wenn sichergestellt ist, dass eine 85-Jährige mit einer Prothese wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, dann kann eine solche Operation sinnvoll sein.

Wer entscheidet das?

Im Einzelfall die Ärzte. Allerdings müssen diese Grundsatzfragen auch auf der Bundesebene geklärt werden. Dafür könnten unter anderem Ärzte, Patientenorganisationen und Kassen einen nationalen Ethikbeirat bilden, der dann klare Vorgaben macht. Das muss offensiv diskutiert werden. Es ist ein Unding, Mittel auszugeben, wenn sie für den Patienten nichts bringen.

Das Gespräch führten Joachim Türk und Christian Kunst