Koblenz

Die prämierte Reportage: Der Quelle-Chef macht seinen letzten Rundgang

Auf dem Zentralplatz endet eine Ära: Das frühere Quelle-Kaufhaus, das einst der Konsumtempel der Stadt war, wird abgerissen. Die RZ ist mit dem früheren Chef ein letztes Mal durchs Haus gegangen. Zahns Telefon steht noch im Büro – Sonst ist nichts, wie es einmal war.

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Koblenz – Sein Schreibtisch ist weg, der Teppich in seinem Büro verdreckt. In der Decke prangt ein Loch, vor dem Fenster stapeln sich herausgerissene Metallleisten. Neben der Tür, wo einst sein Aktenschrank stand, steht eine fremde Kommode. Ihre Ablage ist voller Vogelkot, mittendrin liegt eine leer getrunkene Tüte Capri-Sonne.

Das frühere Quelle-Kaufhaus (1968-1993) wenige Wochen vor Abrissbeginn. Das Transparent „Koblenz lebt auf“ weist auf das Forum Mittelrhein hin, das an der Stelle bis 2012 gebaut werden soll.

Hartmut Wagner

Das frühere Quelle-Kaufhaus wurde von 1993 bis 1995 von Hertie betrieben. Am Ende kam der große Ausverkauf.

privat

Als Hertie 1995 seine Filiale in Koblenz schloss, waren alle Waren bis zu 60 Prozent reduziert.

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Dieter Zahn, der letzte Geschäftsführer des Kaufhauses, in seinem früheren Büro im dritten Stock. Ende Juli stand dort immer noch das Telefon des 64-Jährigen, obwohl er knapp 15 Jahre zuvor letztmals in dem Büro war.

Winfried Scholz

Dieter Zahn blickt vom früheren Sekretariat des Kaufhauses auf das Schängel-Center. Die Couch gehörte nicht zum Kaufhaus-Inventar.

Winfried Scholz

Ein Geldschrank aus vergangenen Zeiten. Über die Jahre hat sich in der Ecke daneben allerhand Gerümpel angesammelt.

Winfried Scholz

Im ehemaligen Hausmeisterbüro herrscht Chaos: Ordner, Schlüssel und Unterlagen liegen verteilt auf dem Boden.

Winfried Scholz

Mit der Stechuhr links neben dem Eingang, mussten die Kaufhausmitarbeiter ihr Kommen und Gehen dokumentieren. In den Haltern an der Wand wurden die Zeitkarten aufbewahrt.

Winfried Scholz

Ja, sie stempelt noch: Der frühere Geschäftsführer Dieter Zahn testet die Stechuhr.

Winfried Scholz

Einst war dies der Eingang zur Chefetage des Kaufhauses im dritten Stock. Jeder Mitarbeiter musste hier durch, um zur Stechuhr zu gelangen. Ende Juli war der Eingang völlig heruntergekommen. Das Regenwasser, das über Jahre durch das defekte Flachdach des Kaufhauses lief, hatte die Decke zerstört.

Winfried Scholz

Auch in diesem Räumchen im dritten Stock weichte Regenwasser die Decke auf – der Putz bröckelte jahrelang auf den Boden. Dieter Zahn und unser Redakteur Hartmut Wagner sehen sich die Sauerei an.

Winfried Scholz

Auf dem Kaufhausdach wuchs seit Jahren ein Blauglockenbaum. Vielleicht waren auch seine Wurzeln Schuld daran, dass das Dach undicht wurde. Im Bild: Dieter Zahn und unsere Redakteure Katrin Steinert und Hartmut Wagner.

Winfried Scholz

Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Auf dem Kaufhausdach, in einem Raum am Ende des Fahrstuhlschachts, liegt eine Rhein-Zeitung vom Oktober 1993 auf dem Tisch.

Winfried Scholz

Im früheren Restaurant „Le Buffet“ hat sich in den vergangenen Jahren so gut wie nichts verändert. Nur zum Essen kam niemand mehr.

Winfried Scholz

Der Blick aus der Küche auf das Restaurant. Links die Salatbar, rechts die „Spaghetti-Box“ und die Frühstückstheke.

Winfried Scholz

Die Rolltreppe ins erste Untergeschoss. Die Staubschicht auf den schwarzen Bändern zeigt überdeutlich: Hier hat schon lange niemand mehr eingekauft.

Hartmut Wagner

Der Ausgang des Kaufhauses Richtung Schängel-Center. Der Dreck auf dem Boden hielt die Fußspuren der vergangenen Jahre fest.

Winfried Scholz

Leer – das waren zum Schluss alle Verkaufsräume des Hauses.

Hartmut Wagner

Einige Meter unter der Erde: Der große Lagerraum im zweiten Untergeschoss des Kaufhauses.

Winfried Scholz

Der Raum war einst ein Herzstück des Kaufhauses: Telefonzentrale, Pförtnerloge und Ausgangsort aller Hausdurchsagen. Zum Schluss war er nur noch ein düsterer, kleiner Verschlag ohne Licht.

Hartmut Wagner

Ein Freitagmorgen Ende Juli: Mehr als 14 Jahre sind vergangen, seit Dieter Zahn (64) letztmals in seinem Büro stand. Der hagere Mann mit dem schlohweißen Haar schiebt die Tür auf – und bekommt einen Schock. Er war der letzte Geschäftsführer im Kaufhaus auf dem Koblenzer Zentralplatz, erst im Dienst von Quelle, später von Hertie. Sein Büro war nicht protzig, aber standesgemäß für ein Geschäft mit Millionenumsatz. Großer Tisch, lange Fensterfront, Wand und Tür holzvertäfelt. Das Büro war eine kleine Residenz. Jetzt ist es eine Bruchbude.

Das fünfgeschossige Warenhaus in der Casinostraße 10 war jahrelang der größte Konsumtempel in Koblenz. Es gab alles. Vom Babystrampler bis zum Herrensakko, vom Rindersteak bis zum Kühlschrank. Bei der Eröffnung 1968 wurde das Haus euphorisch gefeiert als Symbol des Wiederaufbaus und als neues Schmuckstück der Stadt. Doch irgendwann blieben die Kunden aus.

1996 endete auf dem Zentralplatz eine Ära: Dieter Zahn zog ein letztes Mal seine Bürotür hinter sich zu. Die Einkaufsstätte schloss ihre Pforten. Bald verkam der größte Platz der Stadt zur menschenleeren Betonwüste, das einst stolze Kaufhaus zur Konsumruine. Auch wenn untere Etagen zeitweise vermietet waren.

Mittelrhein-Forum entsteht

2010 beginnt eine neue Ära: Bagger mit riesigen Greifarmen reißen das Gebäude ab. Bis 2012 bauen die Konzerne ECE und Strabag auf dem Kaufhausgelände, dem Zentralplatz und einer nahen Baugrube ein neues Einkaufs- und Kulturzentrum: das Mittelrhein-Forum.

Eigentlich hätte Zahn sein Büro nie mehr betreten. Doch als ein Redakteur der RZ anfragt, ob er ihm das Kaufhaus ein letztes Mal zeigen würde, sagt er sofort zu. „Es fiel mir furchtbar schwer“, räumt er später ein. „Aber ich empfand es als eine Aufgabe, die ich zu erfüllen hatte.“

Jetzt steht Zahn im dritten Stock der Kaufhausruine. Staub und Dreck von 14 Jahren knirschen unter seinen Schuhen. Als er die kotverschmierte Kommode sieht, schüttelt er den Kopf. Dann sagt er trotzig: „Das ist nicht mehr mein Haus. Ich blicke nach vorn.“ Er zeigt nicht, wie weh es tut. Das tat er nie. All die Jahre nicht, als sein Geschäft dem Ende zusteuerte. Er wollte Vorbild sein, Größe und Führung zeigen.

Seit Zahn letztmals in seinem Büro war, revolutionierten Mobilfunk und Internet die Welt, erschütterte der 11. September 2001 die Politik, zog eine Finanzkrise um den Globus. In Zahns Büro aber stand die Zeit still. Abrissgutachter untersuchten Material aus der Decke. Irgendwer stellte die Kommode ab. Sonst passierte nichts – 14 Jahre lang nichts.

Zahn setzt sich auf einen Stuhl, nimmt das Telefon, das in einer Ecke steht. Tatsächlich: Es ist seines. Erst will er es nicht wahrhaben. Sein Telefon? In dieser Bude? Dann wandert sein Blick über die Tasten. Dort stehen Namen seiner Mitarbeiter.

Es ist 11 Uhr. Als Zahn noch Geschäftsführer war, machte er um diese Zeit seinen täglichen Gang durchs Haus. Damals trug er Anzug und Krawatte, heute Freizeitkleidung und Sandalen. Damals war das Gebäude voller Leute, heute ist es leer. Zahn verlässt zum allerletzten Mal sein Büro. Und macht noch einmal seinen Rundgang.

Früher änderte er täglich seine Route, seine Mitarbeiter sollten nicht wissen, wann er wo aufkreuzt. Mal nahm er den Aufzug, mal die Treppe, mal begann er in der Spielzeug-, mal in der Wäscheabteilung. Heute läuft er zuerst Richtung Kantine.

Draußen, auf dem Zentralplatz, ist an diesem Tag nichts los. Obdachlose trinken Bier. Eine Frau wartet auf den Bus. Ein Pärchen schlendert Richtung Altstadt. Trotzdem scheint es, als wäre der Platz leer. Seine Weitläufigkeit schluckt alles. Früher war der Platz richtig belebt. Aber das ist lange her.

Donnerstag, 26. September 1968: Eröffnungstag für das neue Quelle-Haus – Ausnahmezustand in Koblenz. Um 7 Uhr öffnete erstmals die Tiefgarage unter dem Zentralplatz, kurze Zeit später war sie voll. 50 Polizisten regelten den Verkehr. An den Schaufenstern des Geschäfts drückten sich Schnäppchenjäger die Nasen platt. Am Haupteingang herrschte Gedränge. Um 9.30 Uhr öffnete das Haus. Die Menschen stürmten hinein.

In den Tagen zuvor schaltete Quelle in der RZ große Anzeigen. „Hurra!“ jubelten dicke Lettern. „Quelle eröffnet das größte Kaufhaus in Koblenz mit einem wahren Feuerwerk der Preis-Sensationen!“ Im Angebot: ein Dia-Projektor (99 D-Mark), die Reise-Schreibmaschine „Konsul“ (89 D-Mark) oder frisches Eisbein (89 Pfennig/500 Gramm).

Doris Tingelhoff war bei der Eröffnung dabei. Die 60-Jährige, das lange rote Haar zum Zopf geflochten, sitzt an einem Julitag in einem Koblenzer Café. Sie blickt rüber zur Kaufhausruine, löffelt die Sahne aus ihrem Cappuccino und stöbert in ihren Erinnerungen. „Was damals los war, war unglaublich“, erzählt sie. „So viele Leute! Wir mussten die Türen verriegeln. Es durfte erst wieder jemand rein, wenn ein anderer rausging.“

Tingelhoff wurde 1968 im Alter von 18 Jahren Chefsekretärin des Hauses – und blieb es bis zum Schluss. Sie arbeitete dort 28 Jahre, immer im selben Büro, immer als rechte Hand des Chefs. Zahn war der letzte. Auch er verbrachte den Großteil seines Berufslebens in dem Haus – 23 Jahre. Er hat sich hochgearbeitet, vom Abteilungsleiter bis zum Chef.

Für Dieter Zahn, für Doris Tingelhoff und für viele andere Quelle-Mitarbeiter war das Kaufhaus auf dem Zentralplatz nicht nur ein Kaufhaus. Es war eine Selbstverständlichkeit ihres Lebens. Etwas, in das sie ihr Herzblut steckten, das Orientierung und Halt gab, das geschaffen schien für die Ewigkeit. Hätte man ihnen in den 70er- oder 80er-Jahren gesagt, dass ihr Geschäft dereinst zertrümmert und von Lastern abtransportiert wird – sie hätten es nie geglaubt. Sie hatten mit Quelle eines der mächtigsten Unternehmen Deutschlands hinter sich, einen Hauptgewinner des Wirtschaftswunders, das größte Versandhaus Europas. Was sollte da passieren?

Bei der Eröffnung war das Kaufhaus ein Konsumtempel. Kleidung und Spielzeug, Bücher und Elektrogeräte gab es sowieso. Das Haus hatte zudem einen Supermarkt, eine Bankfiliale und ein Reisebüro. Einen Friseur, ein Restaurant und eine Konditorei. Fahrstuhlführer drückten im Aufzug aufs Knöpfchen und fuhren die Kunden zu den Etagen. Wer mit dem Auto kam, konnte in der Tiefgarage parken, die Waschstraße nutzen, neben dem Haus tanken – einen Liter Super für 60 Pfennig.

Anfang der 70er-Jahre erlebte das Haus seine Blüte. Es hatte rund 400 Mitarbeiter, machte 45 Millionen D-Mark Jahresumsatz. Bis heute schwärmt Zahn von einem Samstag in der Weihnachtszeit, als das Geschäft an einem Tag knapp 1 Million D-Mark Umsatz machte.

In den 80er-Jahren lief das Haus schlechter. Immer weniger Kunden kamen. Zahn nennt drei Gründe: In Nachbarstädten siedelten sich neue Kaufhäuser an. Der Gewerbepark Mülheim-Kärlich wuchs und wuchs. Und: 1984 eröffnete das Löhr-Center. Das neue Einkaufszentrum ist rund viermal größer als das Quelle-Haus, hat mehr Auswahl und liegt günstiger. Es hat Zugang zur Fußgängerzone, während das Quelle-Haus erst nach einem Fußmarsch über den Zentralplatz zu erreichen ist.

Guni Gauss (53) verkaufte bei Quelle 24 Jahre lang Koffer, Taschen und Schulranzen. In den 70er-Jahren war ihre Abteilung morgens voller Kunden. Eine Dekade später stand sie um diese Zeit oft allein da – und langweilte sich. „Es war, als säße ein großer Hund vor der Tür, der die Kunden vertreibt.“

Zahn schrieb damals einen Brief an Oberbürgermeister Willi Hörter. Betreff: „Ein sterbender Platz bittet um Hilfe“. Doris Tingelhoff fotografierte zwei Wochen lang den menschenleeren Zentralplatz – und legte die Bilder bei. Die Quelle-Mitarbeiter hofften, die Stadt könnte den Platz attraktiver machen, damit mehr Kunden kommen. Vergeblich.

1993 war Schluss: Quelle verkaufte das Haus am 1. März an Hertie. Doch sein Ende wurde so nur verzögert. Im Juli 1995 erhielt Zahn ein Fax, als er mit seiner Frau auf Istrien urlaubte. Er sollte sofort in der Hertie-Zentrale in Frankfurt anrufen. In kurzer Hose und Badeschlappen erfuhr er: Sein Geschäft wird Ende 1995 dicht gemacht.

Das Warenhaus war damals in prekärer Lage. Es hatte 1995 noch 106 Mitarbeiter, Anfang der 70er-Jahre waren es viermal so viele. Der Umsatz betrug 1994 rund 22,8 Millionen D-Mark, Anfang der 70er-Jahre war er doppelt so hoch. Und: Der Hertie-Konzern erwartete für die Filiale bis 1998 mehrere Millionen D-Mark Verlust.

Als Zahn in der Mitarbeiterkantine ankommt, muss er schlucken. An der Wand stehen Paletten, der Raum ist fast leer. Aber für ihn steckt er voller Erinnerung. Hier schüttelte er am 23. Dezember 1995 jedem Mitarbeiter zum Abschied die Hand. Er blickte in traurige Gesichter, manche weinten. Es war der letzte Verkaufstag, die Kassen waren abgerechnet, alle Kunden aus dem Haus. „Das war einer der wenigen Momente, in denen ich nicht reden konnte“, murmelt Zahn. Dann will er weiter.

Plötzlich stehen vor ihm vier Männer der Abbruchfirma. Sie begutachten das Gebäude, wollen wissen: Wer ist dieser Herr? Was will er hier? Zahn muss sich im eigenen Haus rechtfertigen.

Regenfass im Treppenhaus

Es kommt noch schlimmer: Zahn sieht das Chaos im Hausmeisterbüro. Am Boden liegen aus den Regalen gerissene Ordner. Dazwischen Schlüssel, Flaschen, Hauspläne. Auf dem Tisch ein alter Brief, unterschrieben mit: Dieter Zahn. Der knurrt: „Das hätte man hier alles anders halten können!“ Das Hausmeisterbüro, das ganze Haus, existiert bald nicht mehr. Aber Zahn fühlt sich verantwortlich. Bis zum Schluss.

Im Treppenhaus vor den Stechuhren für die Mitarbeiter steht ein halb vollgelaufenes Regenfass. Das Flachdach des Gebäudes ist undicht. Der Regen fraß sich jahrelang durch den Beton. Zahn hinterließ das Haus einst tipptopp. Jetzt prangen Flecken an der Decke, spinatgrün, schimmelschwarz oder rostrot. Kalkfetzen bedecken den Boden. Zahn läuft wortlos drüber.

Noch einen Schritt, dann beginnt die Finsternis. Zahn steht in der Tür zum ersten Obergeschoss. Einst war der Raum voller Regale und Ständer, rechts mit Anzügen und Hemden, links mit Blusen und Röcken. Jetzt ist er leer, weit und düster. Zahns Schritte verhallen, sein Blick sucht Altbekanntes. Aber nur die Rolltreppe und die vielen Spiegel erinnern daran, dass hier mal ein Kaufhaus war.

Eigentlich wollte Zahn zwei, vielleicht drei Stunden bleiben. Es werden fast fünf. Er schaut in jeden Raum, weiß zu jedem eine Geschichte, begrüßt jeden wie einen alten Freund, den er nach vielen Jahren in die Arme nehmen darf. Wenn auch zum allerletzten Mal.

Von unserem Redakteur Hartmut Wagner