Das große weiße Pferd und der Frühlingstag

Das große weiße Pferd mit dem rosaroten Zaumzeug lebte auf einer Koppel und in einem Stall im Nirgendwo und Überall. Nur Kinder und Tiere konnten das stolze Tier mit dem glänzenden Fell, den großen gütigen Augen und der seidigen Mähne sehen. Das weiße Pferd selbst hatte immer in allem den Überblick.

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An diesem Frühlingsmorgen trabte es über die eben zart grünenden Felder, freute sich an den ersten Blümchen, die es ganz vorsichtig umrundete, um sie nicht zu verletzen, und lauschte dem Gesang der Vögel. Neugierig schaute es auf ein Amselpärchen, das eifrig an seinem Nest baute.

„Guten Morgen, weißes Pferd!“, sagte die Amselfrau. „ Was ich dich schon immer einmal fragen wollte, warum trägst du so ein auffallend rosarotes Zaumzeug? Es ist wirklich schön, doch eben so auffällig.“ „Das werde ich oft gefragt“, sagte das weiße Pferd freundlich.

„Mein Zaumzeug ist so rosarot wie die Träume der Kinder und die guten Gedanken und Hoffnungen vieler erwachsener Menschen. Die Farbe ist eine Mischung aus Rot und Weiß. Weiß steht für Klarheit und Reinheit und Rot ist die Farbe der Liebe und des Lebens. Rosa aber ist die Farbe der Nächstenliebe.“

„Du könntest ein Dichter sein“, warf der Amselmann ein, während er kunstvoll einige Zweige in seinem Nest verbaute. „Danke!“, wieherte das große weiße Pferd, „weiterhin viel Erfolg beim Nestbau. Das Nest sieht sehr gemütlich aus.“ „Du bist herzlich zur Einweihung eingeladen, bald ist alles fertig“, rief die Amselfrau noch hinter dem Pferd her, das aber schon zum Galopp ansetzte, über die Wiese jagte und im Frühlingssonnenschein Freudensprünge machte.

Doch was war das? Da sprach doch jemand. Das Pferd hörte laute Kinderstimmen hinter einer Hecke. Die Stimmen kamen immer näher. Es war eine Kindergartengruppe, unterwegs zu einem ersten Waldspaziergang im Frühling. Das weiße Pferd schloss sich vorsichtig an. Stören wollte es die Kinder und ihre Begleiterinnen nicht.

„Schau mal, eine Kuckucksblume!“, rief ein kleiner Junge. „Die Kuckucksblumen heißen auch Buschwindröschen“, erklärte ein Mädchen, das hinter ihm ging. „Da vorn sind ganz viele Löwenzähne.“ „Ja, dandelions. So sagen wir in Amerika“, übersetzte Jane, ein kleines quirliges Mädchen aus Washington, das bei seinen Großeltern in Deutschland zu Besuch war. „Dandelion“ , wiederholten die Kinder.

„Wie heißt Baum auf Englisch, und was Sonne? Was bedeutet Frühling?“, wollten einige Kinder wissen. Jane erklärte es ihnen. „Frühling heißt spring.“ – „Spring?“, fragte ein Kind, „wie springen?“ – „Genau, wie springen, nur ohne en. Also spring“, war Janes Antwort. „Baum ist tree und Sonne ist sun“, fuhr Jane fort.

Die Kinder wiederholten eifrig: „Spring, tree, sun.“ „Auf Spanisch heißt Frühling primavera, Baum ist arbal und die Sonne sol“, rief ein Mädchen mit dunklen Haaren und Augen. „Mein Papa ist Spanier, und wir sprechen Spanisch und Deutsch zu Hause.“ Und die Kinder wiederholten: „Primavera, arbal, sol.

“Wollt ihr wissen, was Frühling auf Türkisch heißt?„, fragte ein Junge. “Meine Großeltern stammen aus der Türkei und kamen vor langer Zeit nach Deutschland. Wir sprechen Türkisch und Deutsch zu Hause.„ “O ja!„, riefen alle. “Frühling heißt bahar, der Baum ist agac, und die Sonne günes.„ Alle wiederholten: “Bahar, agac, günes – und verschwanden in der Waldschneise.

„Interessant“, dachte das große weiße Pferd. „Pferde haben eine Sprache. Gleichgültig, in welchem Land wir wiehern, wir verstehen uns immer sofort. Bei den Menschen gibt es verschiedene Sprachen. Sie brauchen ein wenig länger, wenn sie verstehen wollen, was sie einander sagen. Doch es gibt auch die Sprache des Lächelns, des Weinens. Man kann am Gesicht sehen, was jemand fühlt. Diese Sprache wird überall verstanden, auch ohne Worte.“

Beate Luszczynski aus Eitelborn hat die Geschichte 
für ihre Tochter (damals fünf Jahre) geschrieben.