Der Zorn treibt immer mehr S21-Gegner auf die Straße

Fortschrittsfeindlichkeit oder falscher Fortschritt: Rebelliert die schwäbische Seele zu Recht gegen das teure Bahnprojekt?

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Um es gleich zu sagen: Ich bin ein großer Freund der Eisenbahn. Weil sie umweltfreundlich ist und weil nach allen Prognosen die Zukunft der Güter- und Personenmobilität auf der Schiene liegt. Genau deshalb halte ich „Stuttgart 21„ (S21) für wenig sinnvoll – es geht an den Erfordernissen eines zukunftsfähigen Bahnverkehrs vorbei.

Erstens: S21 konzentriert mit seinen offiziell auf sieben Milliarden Euro veranschlagten Gesamtkosten gewaltige Geldmengen auf ein einziges Bahnprojekt. Die Erfahrung mit Großbauten lehrt, dass es bei dieser Summe nicht bleibt. Jede Milliarde, die mehr ausgegeben wird, geht zulasten anderer Bahnprojekte. Um es pointiert auszudrücken: je teurer S21, umso geringer die Chance für das Rheintal, durch einen neuen Schienenstrang auf den Höhen vom Bahnlärm entlastet zu werden. Umso geringer die Chance für die norddeutschen Seehäfen auf zügigeren Güterabfluss per Bahn oder für effektiveren Bahnverkehr auf regionaler Ebene. Es wird auf Jahre einfach das Geld fehlen.

Zweitens: Neuer Bahnhof und Neubaustrecke tragen gar nichts bei, um die Effizienz des Gütertransports im deutschen Schienennetz zu erhöhen. Die Bahn wiederholt in Schwaben, was sie schon bei der Trasse Köln–Frankfurt falsch machte: Sie baut nur für den ICE-Personenverkehr. Keine Ausweichen, die Kurven zu eng, die Steigungen zu steil für Güterzüge. Wieder geht es vor allem um Beschleunigung des Personentransports auf Fernstrecken. Das mag zwar für den Börsengang mehr Pluspunkte bringen als ein verzweigtes Schienennetz in der Fläche. Für die deutsche Verkehrsinfrastruktur ist es allerdings fatal. Das Gütertransportaufkommen soll sich binnen 10 bis 15 Jahren verdoppeln. Wenn all diese Güter auf der Straße landen, dürfte sich dort nicht mehr viel bewegen.

Skepsis gegenüber S21 ist also nicht per se fortschrittsfeindlich. Vielmehr stellt sich die Frage: Ist dieses Mammutprojekt bloß ein teurer Fortschritt in die falsche Richtung? Um die Kapazitäten des alten Kopfbahnhofs zu erhöhen, gäbe es billigere oberirdische Alternativen. Deren ernsthafter Prüfung haben sich die S21-Betreiber aber stets verschlossen. Statt mit öffentlicher Erörterung und ernst gemeinter Bürgerbeteiligung ging S21 mit Hochglanzprojektionen über seine angeblich positiven Wirkungen für die Region in die Beschlussfassung und jetzt an den Baustart.

Nun fühlen sich nach Umfragen fast zwei Drittel der Stuttgarter von der Politik überfahren mit einem Bauprojekt, das das Zentrum ihrer Stadt grundlegend verändert. Den angeblichen Wohltaten misstrauen sie: „Wesentliche Fahrzeitverkürzung“ reduzieren sich auf ein paar Minuten. Fließender Verbund der Fernzüge mit dem Regionalverkehr: jede Menge technisch ungelöster Probleme. Schnelleres Umsteigen im Tiefbahnhof: Es wird ein arges Gedränge geben auf den um die Hälfte verminderten Bahnsteigen. Neuer Lebensraum auf dem frei werdenden oberirdischen Gleisgelände: Wer wird sich bei einem Quadratmeterpreis von 4000 Euro dort tummeln? Signifikant erhöhtes Fahrgastaufkommen: Spekulation. 10 000 neue Arbeitsplätze: Wunschtraum. Denkmalschutz, Umweltschutz, geologische Instabilität: abgetan. Die Gesamtkosten: hochexplosiv.

Nun treibt zorniger Trotz Zehntausende, nicht zuletzt aus der Mitte der Gesellschaft, auf die Stuttgarter Straßen. Schwaben sind von Hause nicht protestierwütig – nur wenn man sie als gewalttätig, dummköpfig, fortschrittsfeindlich, undemokratisch abkanzelt und gar polizeilich verprügeln lässt. Mit dieser Gemengelage haben Landesregierung und Bahn jetzt zu tun. Angesichts von Größe wie Ausdauer des Protestes schlagen sie nun sachtere Töne an. Doch Gesprächsangebote bei gleichzeitigem Voranpeitschen der Abrissarbeiten kommen bei vielen als Verhöhnung an.

Ernst gemeinter Dialog setzt zumindest zeitweisen Baustopp voraus. Die Betreiber von Stuttgart 21 können das mit dem Verweis auf einen legitimen Baubeschluss ablehnen. Ob sie die formale Sturheit auch politisch durchhalten, sei dahingestellt. Für diesen Fall unter anderem ist das Demonstrationsrecht da: damit Bürger widersprechen können, wenn Regierungen in Einzelfragen anders entscheiden als von Teilen oder der Mehrheit des Wahlvolkes gewollt.

Andreas Pecht