Über Flüchtlinge offen im Netz reden? Wo Wutbürger aus der Ecke kommen

„Mehr anzeigen“? Oder verbergen? Oder gar mehr Anzeigen? Jeder Betreiber einer Seite bei Facebook kann Leserkommentare "verbergen" – ohne dass es die Leser und der Betroffene sowie dessen Freunde mitbekommen.
„Mehr anzeigen“? Oder verbergen? Oder gar mehr Anzeigen? Jeder Betreiber einer Seite bei Facebook kann Leserkommentare "verbergen" – ohne dass es die Leser und der Betroffene sowie dessen Freunde mitbekommen. Foto: Marcus Schwarze (Screenshot)

In den sozialen Medien explodiert die Zahl der Beiträge zur Flüchtlingsproblematik. Viele klassische Medien kapitulieren. Sie schließen ihre Diskussionsorte. Wo bleiben jene, die seriös und ohne Schaum vor dem Mund diskutieren wollen?

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Von unserem Digitalchef Marcus Schwarze

Der Umgang mit den Flüchtlingen stellt auch die Medien vor eine Herausforderung – und manche kapitulieren. „Im Unterschied zu vielen anderen Artikeln finden Sie unter diesem Text kein Forum“, schreibt etwa „Spiegel Online“ seit einiger Zeit unterhalb von jenen Artikeln, in denen es um die Flüchtlingsproblematik geht. Begründung: Im zweitgrößten deutschen Internetauftritt gibt es „so viele unangemessene, beleidigende oder justiziable Beiträge“ von Lesern, dass eine gewissenhafte Moderation kaum mehr möglich ist.

Ähnliches liest man bei Tagesschau.de unter Flüchtlingsthemen: „Kommentierung der Meldung beendet“. Beim SWR darf man kommentieren, aber Leserbeiträge werden nicht sichtbar. Bei Bild.de darf man lediglich noch ausgewählte Artikel zu seichten Themen kommentieren – zu geplanten Rentensteigerungen, zum neuesten Bayern-München-Gerücht oder zur jüngsten Wendung im Sommermärchen-Märchen. Im Seichten kann man nicht ertrinken.

15 Mitarbeiter kontrollieren bei Zeit.de Leserbeiträge

Auf Zeit.de halten die Macher an der Kommentiermöglichkeit fest, sie unterhalten dort eine mehrköpfige Redaktion allein für die Kommentare. Aber auch dort häufen sich Hinweise wie „Beitrag entfernt. Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen“; „Entfernt. Fremdenfeindlich“; „Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Pauschalisierungen.“ Hier kommen in der Woche 20.000 Kommentare allein bei Facebook zusammen, weitere 40.000 Kommentare werden wöchentlich unterhalb von Artikeln geschrieben. Um dem Herr zu werden, unterhält Zeit.de eine Mannschaft von 12 Leuten in Berlin und weiteren drei im Ausland, um auch die Nachtzeiten abzudecken.

Es gibt halt in der kalten Kommentarwelt des Internets harten Tobak. „Raus mit dem Axylanten dem Dreck!“, forderte etwa im gebrochenen Deutsch ein Leser bei Facebook unter dem Rhein-Zeitung-Bericht über ein geplantes Containerdorf für 220 Flüchtlinge in Herschbach. „Mäßigen Sie sich!!“, antwortete unserere Online-Redakteurin. Sie erntet dafür fünf Likes, also facebook-typische „Daumen nach oben“-Markierungen. Währenddessen machten sich andere Leser über den Urheber lustig, widersprachen seiner Wortwahl oder nahmen es ironisch: „Warum sollte er sich mäßigen? Ich finde, wir haben ein Recht zu erfahren, wessen Geistes Kind der ein oder andere hier ist.“

Die Klaviatur der Redaktion enthält auch eine gesetzte Pause

Später entschied ich mich als Verantwortlicher der Online-Redaktion, den Ursprungsbeitrag zu „verbergen“, denn niemand soll in unserem Internet-Hinterhof als „Dreck“ bezeichnet werden. Auf der Klaviatur der Moderationsmöglichkeiten geht alles zwischen tirilierender Flöte, hartem Tusch, tiefgreifendem Bass-Solo und, für viele kaum auszuhalten, der gesetzten Pause. Die Redaktion kann als Betreiber widersprechen, wie das meine Kollegin getan hat. Man kann „verbergen“ oder „löschen“, den Urheber sperren, ihn bei Facebook melden, auch bei der Polizei anzeigen. Zack, zack geht da vieles. Weiter zum nächsten Beitrag. Bei der Rhein-Zeitung gibt es täglich Hunderte Reaktionen über die sozialen Netzwerke. Im Digitalen haben wir die Kommentiermöglichkeiten von einem früheren Forum unterhalb der Artikel auf Rhein-Zeitung.de in Richtung Facebook und Twitter ausgelagert, andere Medien wie die „Süddeutsche Zeitung“ taten es uns später nach.

Eine listige Facebook-Mechanik können alle Seitenbetreiber bei dem US-Dienst anwenden: Den „Dreck“-Beitrag haben wir nicht gelöscht, sondern ihm erst widersprochen und ihn dann verborgen: Nur für den Urheber und seine Facebook-Freunde sowie alle, die es kommentiert haben, ist der Beitrag weiterhin sichtbar. Kann man doof finden, aber auch „liken“: So erspart man sich als Medium weitere endlose Diskussionen über Zensur. Zack, weiter. Wir leben in einer Tempo- und Effektgesellschaft, die es kaum aushält, dass manche Lösungen Zeit brauchen, twittert unser Landeskorrespondent Dietmar Brück. Er bekommt dafür zack, zack 15 Favorisierungen und 10 Retweets.

Therapeutsche Strategien gegen widerwärtige Hassschriften

Manche Hassbeiträge im Netz kommen zu unfreiwilligen weiteren Veröffentlichungen. Da tritt beispielsweise eine Intellektuellengruppe namens Beatpoeten auf einem Festival auf und trägt Internetkommentare von Pegida-Anhängern szenisch vor. Journalisten von „Spiegel“ und Berliner „taz“ touren durch Deutschland und geben „Hate-Poetry“-Lesungen. „Ähnlich therapeutische Strategien verfolgen wir bei FAZ.NET inzwischen auch“, berichtet eine Online-Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Ein Kollege sammelt dort die widerwärtigsten Hassschriften, „wir freuen uns über den Unflat, wir lesen ihn laut vor und lachen gemeinsam darüber. Es geht nicht anders.“

Der Hass bei einzelnen ist immens, die Opposition gegen die Medien steigt. 44 Prozent der Deutschen sind nach einer repräsentativen Umfrage von Stern und RTL „voll und ganz“ oder „eher ja“ der Meinung, dass die Medien von ganz oben gesteuert werden und deshalb „geschönte und unzutreffende Meldungen“ verbreiten. In diesem Stimmungsfeld gedeihen alternative Plattformen wie Facebook.

Facebook selbst als weltweit größte Plattform für digitale Veröffentlichungen von jedermann verhält sich dabei sehr zurückhaltend. Ein Anwalt aus Würzburg sammelte kürzlich 60 Hasskommentare, in denen im Nazi-Jargon Gewaltfantasien gegen Flüchtlinge beschrieben wurden oder mit Hakenkreuz und Hitlergruß posiert wurde. Über die „Melden“-Funktion von Facebook bekam er ausnahmslos zur Antwort, dass diese Beiträge nicht den „Gemeinschaftsstandards“ widersprechen würden. Gemeint waren die Standards von Facebook. Per Einschreiben mit Rückschein schickte der Anwalt daraufhin die Beiträge an Firmen- und Privatanschriften von drei Managern der Facebook Germany GmbH. Anschließend erstattete er Strafanzeige.

Was genau sind Hassbeiträge?

Reaktion von Facebook: Ausgesuchte Journalisten wurden nach Dublin in Irland eingeladen. Dort wird ein Teil der wöchentlich eine Million Beschwerden abgearbeitet – von Muttersprachlern, wie es hieß. Facebook-Managerin Siobhán Cummiskey sagte, es gebe nicht einmal in Europa einen Konsens, was „Hatespeech“ genau ist. Indirekt bestätigte sie damit, dass sich Facebook sehr bewusst übers hierzulande geltende Grundgesetz hinwegsetzt. Die selbstbestimmten „Community Guidelines“ von Facebook bilden nach ihren Worten kein Rechtssystem irgendeines Landes ab, nicht einmal das der USA. Auch Nordeuropa-Chef Martin Ott erklärte kürzlich bei einem Vortrag in Vallendar: Hasskommentare – „ich hasse sie. Das ist etwas, was wirklich, wirklich kritisch für uns werden könnte“. Unglücklicherweise gebe es da kein Schwarz und kein Weiß.

In dieser aufgeheizten Gesprächsatmosphäre im Netz fällt es auch gesittet agierenden Kritikern schwer, sich Gehör zu verschaffen, ohne gleich als Wutbürger abgekanzelt zu werden. Kritiker wie Befürworter einer offenen Grenze haben es nicht leicht, ihren Ansichten Raum zu verschaffen. Es ist das eine, die Herzen zu öffnen für die Flüchtlinge und sicher nicht verkehrt, dafür auch Facebook-Likes zu bekommen. Am Ende braucht in der Realität jedes Flüchtlingskind ein Bett und ein Dach über dem Kopf, das zu organisieren ist. Wie wir das in Deutschland und Europa organisieren, steht auf einem anderen Blatt.

Die Anforderungen steigen für Journalisten, aber auch für Leser und Zuschauer

Darüber auch kritisch in der Netzöffentlichkeit zu diskutieren, ist angesichts von Unerfahrenheit beim schriftlichen Formulieren schwierig bis unmöglich geworden. Das hat kaum jemand von uns in der Schule gelernt. Wo jedes Handyvideo von Demonstrationen für und gegen Pegida schnell in den sozialen Netzwerken verbreitet und interpretiert werden kann, steigen die Anforderungen an die Journalisten, sich korrekt und fair zu verhalten. Es steigen aber auch die Anforderungen an die Leser und Zuschauer.

Überprüfen Sie sich selbst: Hat der Nordeuropa-Chef von Facebook laut diesem Artikel, den Sie gerade lesen, die Hasskommentare als „wirklich, wirklich kritisch“ für unsere Gesellschaft bezeichnet? Oder als kritisch für sein Unternehmen Facebook? Solch ein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen und je nach persönlicher Einstellung interpretiert, kann auf die Schnelle einen Shitstorm wie auch eine Facebook-Like-Welle nach sich ziehen. (Das Video seiner Aussage, auf Englisch, finden Sie unter ku-rz.de/ottrefugees. Bilden Sie sich selbst ein Urteil. Meine Interpretation: Er meinte Facebook.)

Martin Ott, Managing Director bei Fabebook Nord-/Mittel- und Osteuropa, über Hate Speach: „I hate it“. #idealab15

Posted by Marcus Schwarze on Friday, October 9, 2015

Die Ausschläge digitalisierter Meinungsäußerungen sind jedenfalls immens; sie sind intensiver als am Stammtisch, beim Abendbrot in der Familie, in der Kantine der Firma oder in Redaktionskonferenzen. Sie sind für viele Neuland, auch Medien. Davor zu kapitulieren und den Diskussionsdruck ganz auszublenden, kann es auch nicht sein. Es gilt, die Probleme mit gewissen Grundvereinbarungen zu diskutieren. Fraglich ist, ob Facebook diese Diskussionsregeln festlegen sollte. Und wie am Ende ein Flüchtlingskind ein Bett und ein Dach über den Kopf bekommen sollte.