Steigende Zahlen: Wie brechen wir Corona im Winter?
Zum Vergleich: Der bisherige Höchstwert lag bei rund 15,5. Dennoch haben sich mehrere Intensivmediziner zuletzt vehement gegen ein Ende der epidemischen Lage ausgesprochen, wie es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mehrfach gefordert hatte und wie es die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP jetzt angekündigt haben.
Hintergrund der Warnungen dürfte sein, dass sich das Ungemach in der Corona-Pandemie meist schleichend und mit Zeitverzug zeigt. Und Fakt ist, dass die größten Wachstumsraten derzeit in den Altersgruppen ab 50 Jahren zu verzeichnen sind. Fast 80 Prozent der Covid-19-Fälle auf den Intensivstationen kommen aus dieser Altersgruppe. Aktuell wächst die Zahl der mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten jede Woche um etwa 15 Prozent – Tendenz steigend. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, dann wären am Jahresende ähnlich viele Intensivbetten belegt wie vor einem Jahr. Spätestens dann würde sich auch wieder die Frage nach einem deutschlandweiten Lockdown stellen – möglicherweise auch nur für Ungeimpfte, wie dies derzeit in Österreich diskutiert wird. Allerdings würde ein Ende der epidemischen Lage dies äußerst kompliziert, wenn nicht unmöglich machen – doch die Ampelparteien haben auch ausdrücklich betont, dass es unter ihrer Regierung keine weiteren nationalen Lockdowns geben soll.
Wie schützen wir die Älteren?
Befeuert wird die Debatte über eine Rückkehr des Lockdown allerdings durch die wachsende Zahl an Impfdurchbrüchen und sogar Todesfällen unter doppelt Geimpften in Pflegeheimen ebenfalls in Rheinland-Pfalz. Also dürfte sich auch in diesem Corona-Winter – trotz einer Impfquote unter Erwachsenen von mehr als 80 Prozent – wieder die Frage stellen, wie besonders die vulnerablen Gruppen der Älteren und Vorerkrankten vor einer Infektion geschützt werden können, um so einen Lockdown zu verhindern.
Auf diese für das gesamte Land existenziellen Frage geben mehrere Experten sehr unterschiedliche Antworten, die sich keineswegs allein auf den Königsweg der (Auffrischungs-)Impfung beschränken. Vielmehr empfehlen sie Corona-Maßnahmen, die allerdings flächendeckend nur mit einer Aufrechterhaltung der epidemischen Lage durchsetzbar wären. So sagt Dr. Till Koch, Infektiologe am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf: „So wichtig die Booster sind, sollte man ihre Bedeutung nicht allzu hoch hängen. Mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger sind die Einhaltung der Kontaktmaßnahmen und das Tragen der Masken, gerade für Ältere, selbst wenn sie geimpft sind. Also Risikoreduktion durch Kontaktreduktion. Das muss nicht die eigens gewählte Quarantäne daheim sein, aber mit Blick auf die Feiertage sollte man sich schon fragen, mit wem man ein Familienfest plant.“
Auch der Epidemiologe Prof. Dr. Ralf Reintjes von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg betont: „Der Impfschutz liefert einen relativen Schutz, abhängig vom gesamten Infektionsrisiko.“ Steigt die Zahl der Infektionen also, wie dies aktuell angesichts der kalten Jahreszeit der Fall ist, wächst „im gleichen Maße auch das Risiko für Geimpfte“. Dies liegt laut Reintjes auch daran, dass es angesichts voller Fußballstadien oder immer mehr Großveranstaltungen in Innenräumen zunehmend zu ungeschützten Kontakten kommt. Der Experte ist daher überzeugt: „Das Infektionsrisiko wird gerade in den kommenden Monaten für alle deutlich höher sein als noch vor einigen Monaten oder im vergangenen Winter. Somit ist insbesondere in diesem Winter das eigenverantwortliche Handeln wichtig.“ Reintjes Empfehlung lautet: „Wenn Sie sich vor einer Infektion schützen wollen, halten Sie Ihren Impfschutz effektiv – gegebenenfalls durch eine Boosterimpfung – und vermeiden Sie ungeschützte Kontakte. Die AHA-Regeln und das Lüften haben auch in diesem Winter ihre Bedeutung.“
Im Idealfall, sagt Prof. Dr. Christian Althaus, Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie an der Uni Bern, „können 3G-Regelung und Masken im Winter – zumindest bei einer hohen Impfrate – weitere Maßnahmen unnötig machen und eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern.“ Allerdings müsse man sich zugleich auch auf staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen vorbereiten, um „nicht in eine Situation mit Triage zu geraten“. Von einer 2G-Regelung hält er nichts. „Stattdessen würde ich die PCR-Tests weiterhin kostenfrei anbieten, aber die Gültigkeitsdauer auf 48 oder sogar 24 Stunden reduzieren.“ In Deutschland sind diese Tests seit Anfang Oktober nicht mehr kostenlos.
Boosterimpfung schon ab 60?
Der Infektiologe Till Koch sagt hingegen: „2G ist natürlich besser als 3G. Die geimpfte, aber ungetestete Person ist deutlich sicherer für die Gesellschaft als die getestete, aber ungeimpfte, weil die Sensitivität von Schnelltests bei Menschen ohne Symptome nur bei 80 bis 90 Prozent liegt.“ Allerdings hält der Wissenschaftler wenig vom österreichischen Modell eines Lockdowns für Ungeimpfte bei einer hohen Intensivbettenbelegung. Es sei fraglich, ob dies mehr Menschen zur Impfung bewegen würde. „Gut möglich, dass auch genau der gegenteilige Effekt einsetzt und sich die Impfskeptiker noch mehr zurückziehen.“
Dass die weitere Steigerung der Impfquote gerade mit Blick auf den Corona-Winter und einer zeitgleich erwarteten Grippewelle eminent wichtig ist, daran besteht kein Zweifel: „Die Gruppe der Ungeimpften ist für die Belegung der Intensivstationen entscheidend. Die große Mehrheit der Patienten, die auf den Intensivstationen behandelt werden, ist nicht geimpft. Also sollte man diese Gruppe noch effektiver ansprechen“, fordert Koch. Sein Kollege Althaus hält Booster-Impfungen für Risikogruppen und auch schon für Menschen ab 60 Jahren „für langsam angebracht“. Doch vielleicht sollte man auch daran erinnern, sagt Koch, dass es sich um eine Pandemie handelt, und meint daher: „Global betrachtet wäre es vermutlich schlauer, die Impfungen, die hierzulande als Drittimpfungen eingesetzt werden, im globalen Süden als Erstimpfung einzusetzen. So würde man die Pandemie weltweit noch schneller in den Griff bekommen.“
Christian Kunst