Islamabad

In zwölf Wochen vom Taliban zum Staatsbürger

„Wir konnten in die 
Moschee gehen, das war unsere einzige Freiheit.“ Der 15-jährige Farhan erinnert sich an 
die Herrschaft der Taliban im Swat-Tal.
„Wir konnten in die 
Moschee gehen, das war unsere einzige Freiheit.“ Der 15-jährige Farhan erinnert sich an 
die Herrschaft der Taliban im Swat-Tal. Foto: Carsten Luther

Farhan will Pilot werden. Sein Gesicht ist dabei viel ernster, als es zu seinen 15 Jahren passen würde. Unschuldig von seiner Zukunft zu träumen: Das war lange keine Selbstverständlichkeit im Swat-Tal nahe der Grenze zu Afghanistan, nur wenige Bergkämme entfernt von dem Ort, an dem Terrorpate Osama bin Laden seinen Tod fand. Aus Pakistan berichtet unser Redakteur Carsten Luther. 

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Islamabad – Farhan will Pilot werden. Für zivile Maschinen – das sagt der junge Pakistani mit Nachdruck. Sein Gesicht ist dabei viel ernster, als es zu seinen 15 Jahren passen würde. Unschuldig von seiner Zukunft zu träumen: Das war lange keine Selbstverständlichkeit im Swat-Tal nahe der Grenze zu Afghanistan, nur wenige Bergkämme entfernt von dem Ort, an dem Terrorpate Osama bin Laden seinen Tod fand. Im einstigen Ferienparadies, wo Krieg und Fluten vieles zerstört haben, ist wie nirgendwo sonst Pakistans Kampf gegen den Terrorismus zu besichtigen. Und woran er scheitert.

„Wir konnten in die 
Moschee gehen, das war unsere einzige Freiheit.“ Der 15-jährige Farhan erinnert sich an 
die Herrschaft der Taliban im Swat-Tal.

Carsten Luther

Carsten Luther

Als die Taliban vor vier Jahren kamen, empfingen die Menschen sie wohlwollend. Die einfachen Leute in der ländlichen Region setzten große Hoffnungen in die neuen Herren des Tals. Die Extremisten um Maulana Fazlullah machten viele Versprechungen, die in der kargen Gegend auf fruchtbaren Boden fielen. Armut war die Triebfeder für die Radikalisierung, die der „Radio Mullah“ wortgewaltig über den Äther in die Köpfe pflanzte. Gerechtigkeit sollte herrschen, so wie das islamische Recht, die Scharia, sie definiert – und nicht wie der schwache Staat sie mit endlos ausgedehnten, undurchsichtigen Gerichtsverfahren gleichsam verweigerte.

Bildung war für die Taliban Sünde, Religion bestimmte den Alltag

Es blieb nicht bei Freitagspredigten und charismatischen Ansprachen. Was die Taliban Befreiung nannten, bedeutete für das Leben im Tal das genaue Gegenteil: Farhans Schule blieb oft geschlossen, für Mädchen und Frauen verboten die Extremisten vollends jede Bildung. Musik, westliche Kleidung, Medien – alles musste verschwinden. Wichtige Impfungen wurden untersagt, die Männer angehalten, sich Bärte stehen zu lassen. „Wir konnten in die Moschee gehen, das war unsere einzige Freiheit“, sagt Farhan.

Der 15-Jährige hat in seinem Heimatort Mingora oft aus nächster Nähe erlebt, wozu das Taliban-Regime fähig war gegenüber denen, die sich nicht an die neuen Regeln hielten. „Ich habe gesehen, wie Leute auf der Straße getötet wurden oder ihre Leichen an Straßenlaternen hingen: Immer wieder bin ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochgeschreckt, ich habe geträumt, dass sie in unser Haus eindringen, mich und meine Verwandten umbringen.“

Zu den Opfern gehörten Mullahs, die sich weigerten, die krude Auffassung der Taliban vom Islam zu predigen, Journalisten, Lehrer – einfach jeder, der in den Verdacht geriet, den Gotteskriegern nicht das Wort zu reden. Nachts sprengten die Anhänger Fazlullahs Hunderte Schulen in die Luft, vor allem solche für Mädchen. Das Recht der Scharia wurde mit aller Härte umgesetzt: Öffentliches Auspeitschen, das Abhacken von Händen, Steinigungen, Enthauptungen – diese Strafpraxis duldete die Regierung in Islamabad sogar in einem Friedensabkommen, das später scheiterte. Und auch sonst waren die Beziehungen zwischen Staat und Extremisten gefährlich eng: Die Taliban waren nützlich, um politische Ziele durchzusetzen von Kaschmir bis Afghanistan.

Mit einer gewaltigen Offensive erkämpfte die pakistanische Armee im Frühjahr 2009 schließlich aber die Kontrolle über das Swat-Tal für den Staat zurück. Und eroberte damit zumindest vorerst die Herzen vieler Bewohner: An unzähligen Fassaden prangen noch immer Dankeszeilen, an jeder Ecke weht die Flagge Pakistans.

Mehr als 30 000 Soldaten standen damals fast 6000 Taliban gegenüber. Auf beiden Seiten gab es hohe Verluste. Nur mit Luftangriffen und schweren Waffen war der Kampf zu gewinnen. Für die Armee ist dieser Schlag gegen die Extremisten bis heute eine Erfolgsgeschichte. „Man kann mit Sicherheit sagen, dass es im Swat-Tal keinen Terrorismus mehr gibt“, sagt Major Waquas Akbar.

Vorzeigeprojekt der Armee bringt Taliban-Sympathisanten auf Kurs

Man möchte dem smarten Offizier der 19. Infanteriedivision, die heute im Tal stationiert ist, gern glauben. Doch die Realität sieht anders aus. Noch immer gibt es Kämpfe mit Extremisten und Anschläge auf Bildungseinrichtungen. Einmal war Farhan dabei, als ein Selbstmordattentäter seine Schule angriff. Der Mann rannte wie im Wahn auf das Gebäude zu, ein Soldat erschoss ihn vom Dach aus, bevor er sein Ziel erreichen konnte. „Der tote Körper lag zwei Tage lang auf der Brücke, wo die Hunde an ihm nagten“, erzählt der Junge.

Die Armee präsentiert lieber ihr Vorzeigeprojekt, dessen Teilnehmer nach wenigen Tagen ihre wichtigste Lektion bereits gelernt haben: „Gott ist groß. Lang lebe Pakistan. Lang lebe die pakistanische Armee“, skandieren die bärtigen Männer zackig auf Zuruf. In Gulibagh absolvieren sie ein Deradikalisierungsprogramm mit dem simplen wie ambitionierten Ziel, sie „wieder zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen“, erklärt der Major mit einem Lächeln wie aus einem Bollywood-Film. Drei weitere Einrichtungen dieser Art gibt es im Swat-Tal, eine zusätzliche für Männer, eine für Frauen und eine für Jugendliche.

Am Eingang ein religiöser Sinnspruch, ein Vers aus der Eröffnungssure des Korans, der über den „rechten Weg“ philosophiert. Sie alle hatten diesen Pfad in den vergangenen Jahren verlassen, um den Taliban zu helfen – manche freiwillig, andere, weil man sie dazu zwang. Einige wiederum wussten gar nicht, woran sie wirklich beteiligt waren, wollten es vielleicht auch gar nicht wissen. Die Männer waren eher Mitläufer, „keiner von ihnen ein Hardcore-Terrorist“, sagt Major Akbar. „Alle haben sich freiwillig für das Programm gemeldet.“ Wieder dieses Filmlächeln, das er später noch einmal zeigt, wenn er von der angeblich 100-prozentigen Erfolgsquote bei der Resozialisierung dieser Gefangenen spricht.

Wie die Armee mit denen umgeht, die sie für die wirklich gefährlichen Extremisten hält, davon erzählt er nichts. Im Swat-Tal nahm man es jedenfalls in den vergangenen Monaten nicht so genau mit den Menschenrechten: Folter, Hinrichtungen, Vertreibungen – niemand kann mehr nachvollziehen, ob es immer die Richtigen traf. Dennoch begrüßen die meisten Einwohner, was die Armee hier geleistet hat.

An den grundlegenden Problemen hat sich gleichwohl wenig geändert. Die gigantische Flut im vergangenen Jahr hat ein Übriges dazugetan: Noch mehr Familien mussten alles zurücklassen, verloren Land, Vieh und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Schon während der Kämpfe gegen die Taliban waren rund zwei Millionen Menschen aus dem Tal geflüchtet. Die Wassermassen machten noch einmal gut 18 Millionen obdachlos. Viele kehren zurück – auch auf Druck der Armee -, versuchen einen Neuanfang doch aus der Armut finden sie nur selten einen dauerhaften Ausweg.

Auch deshalb ist die Umerziehung – denn darauf läuft das Deradikalisierungsprogramm am Ende hinaus – für die ehemaligen Taliban-Sympathisanten und -Helfer attraktiv. Das Konzept hat viele Facetten. Im einen Raum sitzen sie mit ihrer paschtunischen Trachten nachempfundenen Einheitskleidung in Reih und Glied, lauschen einem Geistlichen. „Der Islam ist eine Religion des Friedens“ – das müssen sie begreifen, ihre teils radikale Interpretation des Dschihad, des Heiligen Kriegs, ablegen. Psychologen lassen sich intensiv auf jeden Einzelnen ein. In zwölf Wochen soll das alles geschehen, so lange dauert der Unterricht. Staatskunde, Geschichte, Kultur und der Umgang mit Konflikten stehen dabei ebenso auf dem Stundenplan. Auch die Familien, die samstags das Lager besuchen dürfen, sind darin einbezogen.

Perspektive auf Arbeit, aber Angst vor Racheakten

Für die Männer – der jüngste ist 13, der älteste 50 -, dürfte ein weiterer Teil des Programms aber viel wichtiger sein: Je nach Eignung erhalten sie eine berufliche Ausbildung, als Elektriker, als Schreiner, am Computer. Die Armee verschafft ihnen nach der Entlassung oftmals einen Job. Allein, viele haben Angst, in ihre Dörfer zurückzukehren, weil sie Racheakte fürchten, aus der Bevölkerung wie von den Taliban.

Derzeit ist die Welt für die meisten Bewohner des Tals noch so einfach wie für Farhan: „Die Taliban sind schlecht, die Armee ist gut“, urteilt er. Doch manch einer fragt sich bereits: Wann verlassen die Soldaten das Tal, und schafft es der Staat bis dahin, den Menschen eine echte Chance auf Entwicklung zu ermöglichen? Oder kehren die grausamen Gotteskrieger einfach irgendwann zurück, wenn die Regierung wieder andere Prioritäten setzt? „Wir wissen nicht, wer diese Leute sind“, sagt der 15-Jährige. „Aber wir wissen, dass sie noch irgendwo sind.“

Carsten Luther