Günter Grass: Nationaldichter wider Willen

Günter Grass betätigte sich neben der Schriftstellerei auch in der bildenden Kunst als Grafiker und Bildhauer. Nach einer Steinmetzlehre ging er an die Kunsthochschulen in Düsseldorf und Berlin. Seine bildnerischen Arbeiten reichen von der Bleistiftzeichnung über Radierung und Aquarell bis zur Plastik. Sein Leben lang wechselten sich Phasen des Schreibens und des Zeichnens ab. Nach Abschluss eines Romans folgte in der Regel eine Schaffensphase in der bildenden Kunst. 
Günter Grass betätigte sich neben der Schriftstellerei auch in der bildenden Kunst als Grafiker und Bildhauer. Nach einer Steinmetzlehre ging er an die Kunsthochschulen in Düsseldorf und Berlin. Seine bildnerischen Arbeiten reichen von der Bleistiftzeichnung über Radierung und Aquarell bis zur Plastik. Sein Leben lang wechselten sich Phasen des Schreibens und des Zeichnens ab. Nach Abschluss eines Romans folgte in der Regel eine Schaffensphase in der bildenden Kunst.  Foto: dpa

Den Begriff „Nationaldichter“ hat Günter Grass zeitlebens abgelehnt. Dennoch spiegelt sich im Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers, der Montagmorgen 87-jährig in einem Lübecker Krankenhaus im Kreis seiner Familie starb, die jüngere deutsche Geschichte – mit all ihren Brüchen, Kontroversen und Verletzungen.

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Wenige haben so polarisiert und provoziert wie er, selbst noch im hohen Alter „mit letzter Tinte“ in seinem israelkritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012). Aber wenige haben auch so viel einstecken müssen wie der schnauzbärtige Kaschube aus Danzig, dem „Zunge zeigen“ – so einer seiner Buchtitel – zum Markenzeichen werden sollte.

Deutschland hat es Grass schwer gemacht und Grass wiederum Deutschland nicht leicht. Die Scham, als Jugendlicher den Nazis auf den Leim gegangen zu sein, hat ihn gequält. Der Literaturexperte Hanjo Kesting meinte bei einer Lesung mit Grass, man müsse dessen literarisch-künstlerisch-politisches Gesamtwerk als „lebenslange Bußübung“ betrachten. In mehr als 60 Jahren hat Grass Lyrik, Dramen, Ballette und Hörspiele geschaffen, Aphorismen, Essays, Novellen, große Romane und autobiografische Bücher geschrieben.

Kindheit zwischen Gott und Krieg

Am 16. Oktober 1927 kommt „Ginterchen“ in Danzig-Langfuhr zur Welt. Die Eltern: ein deutscher Protestant und eine kaschubische Katholikin. Katholisch wächst Grass auf, ist Messdiener. „Eine Kindheit zwischen Heiligem Geist und Hitler“, schreibt Michael Jürgs in seiner Grass-Biografie. Verwundet überlebt Grass mit 17 den Krieg.

Dass er bei der Waffen-SS war, berichtet Grass erst 2006 in seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ – nach mehr als 60 Jahren. Ein nie zu tilgender Makel, sagte Grass. Kaum einer hält die NS-Verführung des Jugendlichen für ein Problem, wohl aber das Schweigen darüber. Ungezählt die Kiesingers und Filbingers, denen Grass eine unzureichende Aufarbeitung der NS-Zeit zuvor vorhielt. Ihm selbst brachte sein spätes Geständnis den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit ein. Grass wiederum sprach von Vernichtungsversuchen, man wolle ihn mundtot machen.

Als historische Lehre aus der Weimarer Republik, die mangels kämpferischer Demokraten gescheitert sei, sieht Grass zeit seines Lebens die Pflicht zu politischem Engagement. Die Adenauer-Zeit prangert er als muffig-spießig an. Grass sieht in der Bundesrepublik zu viele ehemalige Nazis wieder in hohen Ämtern. Kein Wortduell, dem Grass ausweicht. Franz Josef Strauß (CSU) attackiert die Intellektuellen im Lande und meint vor allem Grass.

In der SPD findet Grass seine politische Heimat. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie lautete Grass' politische Überzeugung. Er unterstützt den späteren Bundeskanzler Willy Brandt und dessen Ostpolitik; die Aussöhnung mit Polen ist ihm Herzenssache, Danzig ernennt ihn später zum Ehrenbürger. Grass begleitet Brandt 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags ebenso wie nach Israel und New York. Jahrzehntelang macht Grass für die SPD Wahlkampf, tritt aber 1992 aus der Partei wegen der Verschärfung des Asylrechts aus – und unterstützt doch weiterhin die SPD.

Teil des politischen Diskurses

Grass will Demokratie, Aufbruch und globale Gerechtigkeit zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden. Gegen die Invasion der USA und ihrer Verbündeten in den Irak 2003 veröffentlicht Grass einen Aufruf, der sich anlehnt an Matthias Claudius' Gedicht „'s ist Krieg! 's ist Krieg!“

Die deutsche Wiedervereinigung kommt ihm zu schnell. Er sieht die Ostdeutschen über den Tisch gezogen, kritisiert, dass keine neue Verfassung erarbeitet wurde – wie im Grundgesetz vorgesehen. Im Roman „Ein weites Feld“ (1995) setzt er sich auch kritisch mit der Treuhandanstalt auseinander, deren Aufgabe es war, die DDR-Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen. In Deutschland hagelt es Verrisse, unter anderem vom damals einflussreichsten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Hinter den oft donnergrollenden Rollen des öffentlichen Polit- und Literaturtheaters ist der Mensch Grass kaum wahrgenommen worden. Er, der von sich selbst sagte, einen Mutterkomplex zu haben. Der es Frauen nicht immer leicht gemacht hat. Von drei Partnerinnen hat Grass insgesamt sechs Kinder. Seine Frau Ute brachte selbst zwei Kinder in die Patchworkfamilie mit, 1979 wurde geheiratet.

Leidenschaftlich gern kochte Grass, gern auch deftig, die Liebe zum Rotwein bleibt unvergessen. Grass war ein Familientier, die Enkelschar der Patchworkfamilie wuchs im Laufe der Jahre und war in vielen Sommern zu Gast im Ferienhaus mitten im Wald auf der dänischen Insel Møn. Die Jahre mit Ute hatten feste Zyklen: Im Winter lebte er im Ferienhaus in Portugal, im Sommer auf Møn mit Badefreuden in der Ostsee. Stammsitz wurde ein altes Haus mit Arbeitsatelier in Behlendorf bei Lübeck, gelegen an einem Kanal.

Suche nach der neuen Heimat

Dort schrieb Grass per Hand und tippte dann seine Manuskripte auf einer alten Olivetti-Schreibmaschine. Oft kam Grass auch nach Berlin oder nach Hamburg. Grass, das Flüchtlingskind, fand keine richtige neue Heimat. „Trotz allem“ hat Grass Deutschland geliebt, wie er in dem im gleichnamigen Band „Eintagsfliegen“ veröffentlichten Gedicht schreibt. Trotz Waffenexporten, trotz sozialen Auseinanderdriftens und trotz der Tatsache, selbst hoch verschuldet andere Länder zum Sparen zu zwingen. Die letzten beiden Strophen spiegeln die wechselseitige Bezogenheit des Autors mit seinem Land besonders deutlich wider:

Nach Liebe dürstendes Land,
dessen Bewohner nicht müde werden,
vernarbte Wunde zu lecken.
Meiner Liebe gewisses Land,
dem ich verhaftet bin,
notfalls als Splitter im Auge."

Matthias Hoenig