Rheinland-Pfalz

Essen mit Verzicht: Die neue Ohne-Kultur

Von Nicole Mieding
Verschiedene vegane und vegetarische Fleischersatzprodukte liegen auf einem Teller.
Verschiedene vegane und vegetarische Fleischersatzprodukte liegen auf einem Teller. Foto: Andreas Arnold

Schlemmen mit gutem Gewissen, geht das? Das fragen sich viele nicht bloß zu Weihnachten, sondern rund ums Jahr. „Gesundheit und Ökologie im Einklang“, so wirbt ein Banner in den Stuttgarter Messehallen. Es herrscht reger Andrang, die Messe „Veggie und frei von“ zieht jedes Jahr Ende November mehr Besucher an. Nach Askese steht denen zum Jahresende nicht der Sinn – vor den Foodtrucks, die vegetarische Burger, vegane Snackboxen und Kaffee mit Hafermilch bieten, stauen sich lange Warteschlangen.

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Unsere Redakteurin Nicole Mieding zu einem fragwürdigen Trend

Wohin man schaut, überall wird gekostet, gesnackt und geschlemmt. Die üppige Auswahl an Produkten, denen das eine oder andere fehlt, bringt einen locker durch den Tag – das Angebot reicht vom Frühstück (glutenfreies Müsli oder Brot, Sojakäse, Kaffee mit Hafermilch) bis zum Sundowner (Mojito mit live gepresstem Zuckerrohr). Dafür fällt der Durchblick auf rund 10.000 Quadratmetern schwer. Denn gemein hat das, was hier beworben wird, nur das Kein: Mal gibt's kein Tier, mal keine künstlichen Zusatzstoffe, dann wieder kein Gluten, keinen Milch- oder gleich gar keinen Zucker. Die Milch im Kaffee ist aus Hafer, Soja oder Mandeln, kommt aber auf gar keinen Fall von der Kuh, Burger, Chili und Döner sind garantiert tierfrei.

Die längste Schlange windet sich vor Kenan Kayis' Dönerstand. Der türkischstämmige Münchner bietet schon seit zwölf Jahren eine vegane Variante an. „Damals kannten viele das Wort gar nicht, für die hab ich vegetarisch drangeschrieben“, erzählt der Ex-Tennislehrer, der heute einen Naturkostladen mit veganem Catering betreibt. Gastronomie war nie sein Ziel, er wollte eigentlich „bloß ein bisschen bei Umwelt- und Tierschutzaktivisten mitmachen“, erzählt er, während er versucht, die hungrige Meute zu füttern, indem er wie am Fließband Seitan vom Drehspieß schält, eine fleischähnliche Substanz auf der Basis von Weizenprotein, die er zusammen mit frischem Salat, Tomaten und Soße in ein Fladenbrot schichtet. Den versammelten Tierfreunden schmeckt der vegane Döner sichtlich. Für Glutenempfindliche ist er leider nichts.

Neben einer gemeinsamen Ideologie stärkt auch geteiltes Leid die Kundenbindung. So ist pünktlich zur Messe eine neue App am Start, die helfen soll, mit Unverträglichkeiten umzugehen – egal, ob die nun ererbt, antrainiert oder nur eingebildet sind. Mit Tioli (Akronym für „Take it or leave it“, auf Deutsch „Nimm's mit, oder lass es liegen“) scannen Kunden die Ware vor dem Kauf im Supermarkt selbst mit dem Smartphone. Sofern sie ihr persönliches Profil eingerichtet haben, warnt das Handy dann vor Gluten, Laktose oder Histamin – je nach Diätplan. „Unser Konzept basiert nicht auf Inhaltsstoffen, sondern ist auf die Community konzentriert“, erklärt der junge Mann, der das Start-up vertritt. Die App analysiert also nicht die Zutatenliste, sondern zeigt an, wie viele Nutzer, die meinen, unter derselben Unverträglichkeit zu leiden, dem Produkt Unbedenklichkeit bescheinigen. Zur Markteinführung haben 200 Tester rund 12.000 Bewertungen geschrieben. Mit Veröffentlichung wird der Nutzerschwarm dafür sorgen, dass deren Zahl explosionsartig zunimmt.

Besonders wissenschaftlich ist das allerdings nicht, und bisweilen verläuft die Grenze zur Esoterik fließend. Etwa, wenn es darum geht, Leitungswasser mit Mineralien zu beleben oder ein Pülverchen zu trinken, das ein Bakterium, koffeinhaltige Samen und Kirschen aus dem Amazonas enthält und nicht nur als „Red Bull in gesund“, sondern gleich als „natürlicher Zaubertrank, der Körper und Geist, vor allem aber Männer belebt und unsterblich macht“, beworben wird. Smartness und Superkräfte werden auch Superfood-Müsli mit Feige, Flachs, Himbeere, Banane oder dunkler Schokolade oder glutenfreien Mehlmischungen zugeschrieben, zu denen es auch den passenden Backautomaten gibt.

Hitze jeglicher Art ist allerdings nichts für Rohkostanhänger. „Alles, was wir verarbeiten, lebt noch. Es wurde nicht erhitzt, nicht extrahiert und ist unverarbeitet. Dadurch kann es von unserem Körper zu 100 Prozent erkannt und verstoffwechselt werden“, erklärt Astrid Drotleff ihre ungebackenen, veganen Rohkosttorten. Gesüßt werden die mit Datteln (Früchte, kein Sirup!), die Böden bestehen aus Mandeln und Kokosöl. Irisch Moos oder Flohsamenschalen sollen sie in Form halten, weil auf Gluten und Ei zur Bindung verzichtet wird. Das mit der Form gelingt nur mäßig, wie ein Blick in die Kühltheke zeigt: Die gallertartige Fruchtmasse fließt – eine Kinderkrankheit, die es noch auszumerzen gilt. Zwischen Eiersatz, Gerstengrassaft, veganer und zuckerfreier Cola, histaminarmen Würzmischungen und lebendiger Zellnahrung preist jemand schnöde Zitronenpressen und Gemüsehobel aus Plastik an. Mit denen rädelt man neuerdings nicht Gurken zu Salat, sondern Pastinaken oder Rote Bete zu Chips. Das fächerförmige Abtropfgitter für die kartoffelfreien, immer noch fettigen Fritten gibt's bei der Konkurrenz am Stand schräg gegenüber.

Vermeiden und Verteufeln: Angstmacher haben Konjunktur

Weglassen ist in Mode. Von Verzicht versprechen sich viele Menschen, die in einer von Konsum und Überfluss geprägten Gesellschaft wie unserer leben, ein einfacheres, bewussteres und damit auch besseres Leben – egal, ob in der Freizeit, beim Einkauf oder beim Essen. Neben ethischen Motiven treibt ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein den Ernährungstrend „frei von“ an. Der gipfelt im „Clean eating“, das impliziert, dass wir uns gewöhnlich mit Nahrung vergiften, und treibt bisweilen sehr skurrile Blüten. Etwa, indem das Zurück zur Natur ad absurdum geführt wird mit Ersatz- und Ergänzungsstoffen, die alles andere als natürlich sind.

Ein fragwürdiger Schritt, wo gerade der Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln als eine Ursache für die Zunahme von Allergien und Unverträglichkeiten gilt.

Für jene wenigen Menschen, die tatsächlich an Zöliakie oder einer Lactoseunverträglichkeit leiden, sind solche Produkte ein Segen. Für alle anderen, die klare Mehrheit, richtet die Furcht, die Heilsbringer und Ernährungspäpste schüren, mit dem Vermeiden und Verteufeln von Inhaltsstoffen aus der Natur mehr Schaden als Nutzen an. Neben falschen Gesundheitsversprechen sollte uns noch etwas anderes an diesem vermeidenden Essverhalten nachdenklich stimmen: Während tierische Erzeugnisse wie Fleisch und Milch den meisten Kunden nicht billig genug sein können, bezahlen sie den Aufpreis für überteuerte Ersatzprodukte, ohne mit der Wimper zu zucken.

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