Erster Weltkrieg: Klassenfahrt zum Grauen von Verdun

Gedenken an den französischen Soldaten Julien Belmont: Der 15-jährige Simon Bednarz legt vor dem Grab nahe dem Beinhaus Douaumont eine Rose nieder.
Gedenken an den französischen Soldaten Julien Belmont: Der 15-jährige Simon Bednarz legt vor dem Grab nahe dem Beinhaus Douaumont eine Rose nieder. Foto: Christian Kunst

In der Gewölbehalle des Beinhauses von Douaumont steht der Tod an der Wand geschrieben. Auf vielen der Sandsteine stehen die Daten gefallener Soldaten. „Brasier de Thuy, Xavier, 30.8.98, † 9.11.17“, ist auf einem zu lesen.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

„Das ist schon ein komisches Gefühl“, sagt Simon Bednarz mit ruhiger Stimme. Er sei traurig, sagt der Schüler vom Martinusgymnasium in Linz (Kreis Neuwied), als er auf die vielen hellen Gedenksteine schaut. Darauf fehlt die Angabe des Jahrhunderts, in dem die Soldaten starben. So sind die Toten ganz nah. Simon wurde '99 geboren. Es könnte sein Jahrgang sein, der hier begraben liegt. Vielleicht hätte er noch ein paar Monate, vielleicht noch zwei Jahre, ehe er in Verdun oder an der Somme fallen würde. Oder er würde wie Xavier noch drei Jahre leben – und dann auf einem der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs krepieren.

Im Schatten des gewaltigen Turms des Beinhauses nahe Verdun: Ihre Eindrücke halten viele Schüler mit ihrem Smartphone fest.
Im Schatten des gewaltigen Turms des Beinhauses nahe Verdun: Ihre Eindrücke halten viele Schüler mit ihrem Smartphone fest.
Foto: Christian Kunst

Simon, dem jungen Rheinbrohler, wird erst hier bewusst, „wie schlimm das tatsächlich war. Es ist komisch, dass die damals vom Krieg so begeistert waren. Denn was davon übrig blieb, ist nichts Lebendiges. Kalte Asche.“ Und Gerippe, Gebeine, Arme, Skelette. Auf der anderen Seite des Beinhauses kann man sie sich durch kleine Fenster im Keller des Beinhaues anschauen. Es sind die Überreste von 130 000 deutschen und französischen Leichen, die nicht identifiziert werden konnten. Die Namen einiger Leichen kennt man. Doch sie ließen sich nicht mehr zuordnen, weil es zu viele Tote waren oder weil die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Die Namen wurden in der 147 Meter langen Gewölbehalle in die Wand graviert.

47 Neuntklässler sind heute aus Linz auf Einladung des Volksbunds Kriegsgräberfürsorge nach Verdun gereist. Sie beginnen ihren Rundgang über die einstigen Schlachtfelder rund um Verdun an den Fenstern des Beinhauses. Als ob sie sich vor dem Anblick des massenhaften Todes schützen wollten, halten fast alle ihr Smartphone vor die Fenster und fotografieren. Es hat etwas Voyeuristisches, fast Groteskes. Vielleicht ist es ihre Art, diesen Anblick zu verarbeiten. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen dafür, wie fern ihnen das damalige Schlachten ist. Eine Schülerin fragt: „Warum haben die nicht gemerkt, dass der Krieg keinen Sinn hat?“ Eine andere sagt: „Stell dir mal vor, dein Kopf würde da drin liegen.“

Es ist bis heute unklar, wie viele Menschen tatsächlich bei der Schlacht um Verdun zwischen Februar und Dezember 1916 starben. Die höchsten Zahlen liegen bei 377 000 Franzosen und 337 000 Deutschen. Der aus Birkenfeld stammende Historiker Jörn Leonhard, der in Freiburg lehrt, geht davon aus, dass mehr als eine Million Soldaten getötet, verwundet oder gefangen wurden. In seinem Buch „Die Büchse der Pandora“ schreibt Leonhard: „Auf einer Fläche von 26 Quadratkilometern wurden circa zehn Millionen Geschosse mit einem Gewicht von 1,35 Millionen Tonnen Stahl abgefeuert.“

Auf der anderen Seite des Beinhauses öffnet sich der Blick auf ein gigantisches Gräberfeld, auf dem 15 000 weiße Kreuze stehen. Hier sind die französischen Toten unter sich, aufgeteilt in je ein Feld von Toten christlichen, jüdischen und muslimischen Glaubens, deren Kreuze gen Mekka ausgerichtet sind. Der Friedhof ist berühmt geworden, als sich hier vor fast 30 Jahren Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand und Kanzler Helmut Kohl die Hand reichten.

Kohl und Mitterrand standen einst vor den Gräbern einfacher Soldaten

Sie standen vor den Gräbern der einfachen Soldaten. „Warum sind hier keine Generäle begraben?“, fragt Bettina Hörter vom Volksbund Kriegsgräberfürsorge die Schüler. „Vielleicht weil sie in höheren Ehren begraben werden mussten“, antwortet Antoine Chaumont. „Oder in weniger Ehren, weil sie ihre Soldaten in den Tod geschickt haben“, meint die 14-jährige Esther Zwick aus Rheinbrohl mit einem sarkastischen Unterton. Bettina Hörter, die Bezirksgeschäftsführerin des Volksbunds für die Region Koblenz und Trier ist, gibt eine andere Antwort: „Die Generäle haben den Krieg von weit weg organisiert.“ Dort, weit weg vom tödlichen Gemetzel, lenkten sie den Krieg. Dort sind sie begraben.

Hier, auf einem der Hügel vor Verdun, wo einst die Ortschaft Douaumont lag, erinnert das gigantische Beinhaus an das Sterben der Tausenden. Bettina Hörter, die im Schatten des 46 Meter hohen Turms steht, versucht, das sandsteinfarbene Ungetüm hinter ihr zu interpretieren. „Es sieht wie ein Schwert aus, das zu einem Kreuz wird. Es sind zwei Symbole, die aufeinandertreffen. Es passt irgendwie nicht zusammen.“ Andere sehen in dem Beinhaus ein Schwert, das bis zur Parierstange in die Erde gerammt ist und von dem nur der Griff, der Turm, emporragt. Andere wiederum erkennen darin eine Granate, die mit Kreuzen bedeckt ist. Viele entdecken darin auch eine Architektur fremder Wesen wie aus einem Science-Fiction-Film. In jedem Fall lässt der Sandstein diesen Ort hell, fast trotzig erstrahlen.

Ganz anders ist es im dunklen Fort Douaumont – eine von mehreren Festungen, die Verdun wie ein Ring umschließen. Auf dem Weg dorthin überwuchern Wälder Schützengräben und Granattrichter. Doch um die Festung ist der Krieg sichtbar. Hier liegt eine von Artilleriegeschossen zerklüftete Mondlandschaft, die nach der Schlacht weiß war und jetzt von Gras bedeckt ist. Einst gab es hier acht Bauerndörfer, deren Reste in der Erde liegen. „Es gibt keine Chance, dass hier jemals wieder etwas angepflanzt werden kann. Der Boden ist verseucht, durch Munition und menschliche Überreste“, sagt Bettina Hörter. Verseucht auch durch das Giftgas, das bei der Schlacht von Verdun erstmals massenhaft zum Einsatz kam. Kein Monat vergeht, berichtet die Koblenzerin, ohne dass jemand durch alte Munition ums Leben kommt.

Der Wahnsinn des Krieges wird in der Festung sichtbar. Als sie 1913 nach jahrzehntelangen Bauarbeiten für den Preis von 6,1 Millionen Gold-Francs fertiggestellt wurde, war sie der Kriegstechnik nicht mehr gewachsen, die längst von der Artillerie geprägt war. Kurz vor dem deutschen Angriff auf Verdun im Februar 1916 wollten die Franzosen das Fort gar sprengen. Nur 60 Artilleristen konnten nicht verhindern, dass die Deutschen die Festung schnell einnahmen. Doch Verdun hatte auch eine große symbolische Bedeutung. „Für viele Franzosen ist Verdun der Geburtsort Frankreichs“, erklärt Michael Hörter, Ehemann von Bettina Hörter und Landeschef des Volksbunds, den Schülern. Denn als im Jahr 843 das Frankenreich Karls des Großen unter seinen drei Enkeln im Vertrag von Verdun aufgeteilt wurde, war dies auch die Geburtsstunde der französischen Nation, lautet die Lesart.

Jeden Tag prasselten Hunderte Granaten auf die Festung

Vier Monate lang verschanzten sich Hunderte deutsche Soldaten in der Festung – und lebten unter teils katastrophalen Verhältnissen, berichtet Michael Hörter. „Jungs, die waren alle nicht viel älter als ihr“, sagt er in einem der Schlafräume, wo 80 bis 90 Soldaten zu dritt in einem Bett nächtigten. Einen der Schüler lässt Hörter ein schweres Blech heben. Dann soll er es loslassen. Ohrenbetäubender Lärm. „So hörte sich damals der Einschlag einer Granate an. Doch damals prasselten jeden Tag Hunderte Granaten auf die Mauern.“

Wenige Kilometer weiter, in Verdun, sitzen Deutsche und Franzosen nebeneinander in einem Café, darunter auch die Schüler aus Linz. Der Besuch an den Gräbern des Ersten Weltkriegs hat Spuren hinterlassen. Eren Ceviz, dessen Eltern aus der Türkei kommen, hat sich auf dem Friedhof am Beinhaus vor allem die Gräber der französischen Muslime nahe dem Beinhaus angeschaut. „Ich habe bei vielen geguckt, wann sie geboren wurden. Das ist ganz schön krass.“ Für den 14-Jährigen ist der Krieg etwas Fernes: „Ich kann mir nicht vorstellen, einen Menschen umzubringen.“

Auf dem Friedhof am Beinhaus legen die Schüler Rosen auf die Gräber der französischen Soldaten. Viele überlegen lange, wem sie ihre Rose geben. Sie wandern durch die Gräberreihen. Es sind so viele Kreuze. Simon Bednarz bleibt vor einem stehen. Einen Moment lang besinnt er sich. Dann kniet er nieder und legt die Rose vor das Kreuz. „Julien Belmont, mort pur la France (gestorben für Frankreich)“. Simon steht auf, zückt sein Smartphone und macht ein Foto. Er will das hier nicht vergessen.