Berlin

Atom-Kehrtwende verändert Republik

Für die Atomenergie geht in Deutschland die Sonne unter: Auch nach dem Ende des Moratoriums geht keiner der acht abgeschalteten Meiler wieder ans Netz. In den übrigen neun Kraftwerken geht bis 2022 das Licht aus.
Für die Atomenergie geht in Deutschland die Sonne unter: Auch nach dem Ende des Moratoriums geht keiner der acht abgeschalteten Meiler wieder ans Netz. In den übrigen neun Kraftwerken geht bis 2022 das Licht aus. Foto: dpa

Angela Merkel tritt mit versteinertem Gesicht vor die eilig im Kanzleramt aufgebauten Kameras. „Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt“, sagt sie am Abend des 12. März 2011, einem Samstag. Sie kündigt eine Sicherheitsüberprüfung für die 17 deutschen Atomkraftwerke an. Wird das reichen?

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M Berlin. Angela Merkel tritt mit versteinertem Gesicht vor die eilig im Kanzleramt aufgebauten Kameras. „Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt“, sagt sie am Abend des 12. März 2011, einem Samstag. Sie kündigt eine Sicherheitsüberprüfung für die 17 deutschen Atomkraftwerke an. Wird das reichen?

Von Georg Ismar

Ein Rückblick:

Schon an jenem Samstag, als in Fukushima eine Explosion ein Reaktorgebäude zerstört und mehrere Kernschmelzen im Gang sind, kommt die Frage auf, was denn nun mit den Laufzeiten sei. Merkel sagt, dass jetzt nicht die Zeit sei, darüber zu reden. Am Tag darauf betont sie: „Die deutschen Kernkraftwerke sind nach Maßgabe dessen, was wir wissen, sicher.“

Doch der öffentliche Druck wird stärker. Merkel dürfte die Bilder von 100 000 Menschen noch gut in Erinnerung haben, die wegen der schwarz-gelben Atompolitik im September 2010 das Regierungsviertel umzingelt hatten. Und den Castor-Transport nach Gorleben, der noch nie 92 Stunden gedauert hatte. Die Laufzeitverlängerung hatte einen hohen Preis. Und die Atomgegner der Grünen sind bereits Überflieger in Umfragen.

Hektisch wird telefoniert, wie auf die neue Lage zu reagieren sei; ein Treffen der Koalitionsspitzen wird einberufen. In den Konzernzentralen von EON, RWE, Vattenfall und EnBW hat man am Montagmorgen noch keine Ahnung, was da kommen wird. So etwas wie in Fukushima sei hierzulande nicht möglich, heißt es.

Am Montagnachmittag, dem 14. März, verkündet Merkel mit dem damals noch als FDP-Chef agierenden Außenminister Guido Westerwelle die Aussetzung der Laufzeitverlängerung. Was das konkret bedeutet, bleibt unklar. Einen Tag später trifft Merkel die fünf Ministerpräsidenten aus den Ländern, die AKW-Standorte sind. Nach einer turbulenten Sitzung verkündet sie ein Moratorium für acht Atommeiler. Deren Aus ist schon damals faktisch besiegelt. Allerdings ist es unter Juristen umstritten, dass als Begründung der Gefahrenabwehr-Paragraf des Atomgesetzes angewandt wird. RWE klagt dagegen.

Das Ganze ist eine fulminante Notbremse, die Deutschland wie Europa überrascht und die politische Landschaft verändert. Der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) begründet sie laut einem später dementierten Sitzungsbericht beim Industrieverband BDI auch mit den anstehenden Landtagswahlen.

Trotz der Kehrtwende geht Baden-Württemberg für die Union verloren, in Stuttgart regiert der erste grüne Ministerpräsident, Winfried Kretschmann. Die FDP fällt besonders tief, Westerwelle muss als Vorsitzender abdanken.

Bis heute hat Merkel nicht gesagt, dass die Verlängerung der Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre ein Fehler gewesen sein könnte. Die Anlagen hätten 50 Jahre und mehr laufen sollen, nun sind es nur 32 Jahre. Die Physikerin hat für sich und die Union alte Glaubenssätze über Bord geworfen. Ob es ihr nützt, wird sich zeigen. Genauso ist unklar, ob die Energiewende funktioniert und ob sie bezahlbar ist. Die Mehrheit der Bürger will den Ausstieg, hält laut Umfragen aber die Kehrtwende Merkels für unglaubwürdig und empfindet sie als bloßes Machtkalkül.

Mit der Berufung der viel gelobten Ethikkommission gelang ihr ein Schachzug. So wurde der Weg bereitet für einen großen Konsens, um das Kampfthema Atom endgültig zu befrieden. Kritiker in der Union wurden ausgebremst. Zuletzt trotzten ihr die Länder und die Grünen auch noch einen Ausstieg in Stufen bis 2022 ab – sie will den Konsens um fast jeden Preis. Kretschmann sieht Schwarz-Grün wieder als Option – jene Variante, die Merkel angesichts der Eskalation im Atomstreit 2010 als Hirngespinst abgetan hatte.

In Europa sieht man den Sonderweg skeptisch. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy freut sich auf mehr Stromexporte in das Nachbarland. Doch auch in Italien lehnt das Volk einen Wiedereinstieg in die Atomkraft ab.