Kommentar: Wir schaffen das – mit einer Quote und mit klaren Ansagen

Vor einem Jahr lässt Kanzlerin Merkel in einer Ausnahmesituation Tausende Flüchtlinge ohne große Kontrollen ins Land kommen. Sie bewegt die Welt – doch in Deutschland wächst die Kritik. „Wir schaffen das“, sagt sie bis heute. „Wir schaffen das – mit einer Quote und mit klaren Ansagen“, sagt unser Chefredakteur Christian Lindner.

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RZ-Chefredakteur Christian 
Lindner
 zur 
Flüchtlingskrise

„Wir schaffen das!“ 2264 Worte lang war die Erklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor genau einem Jahr bei ihrer legendären Pressekonferenz zur Flüchtlingskrise. Wer Merkels Erklärung komplett nachliest, der merkt rasch: Nein, die Kanzlerin hat es sich damals nicht zu einfach gemacht, als sie die mit dem Flüchtlingsansturm verbundenen Herausforderungen beschrieb und einschätzte. Und erst recht hat sie sich und uns nichts vorgemacht. Schon der direkte Kontext ihres berühmten Credos macht das deutlich: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“ Was aber machte das kollektive Gedächtnis unserer Republik aus Merkels Rede und ihrem Aufruf, Menschen in Not mit Elan zu helfen? Wir haben Merkels Lagebeurteilung auf drei Worte reduziert: „Wir schaffen das.“ Das liefert uns bequem eine scheinbar Verantwortliche: Merkel hat’s gesagt, Merkel hat’s unterschätzt, Merkel ist schuld, Merkel muss weg.

Merkel entschied sich für das Helfen

Ähnlich simplifizierend ist das gängige Muster bei der Bewertung der dramatischen Tage in der ersten Septemberwoche 2015, als Merkel die deutschen Grenzen angeblich ohne Not für Hunderttausende Flüchtlinge öffnete. Ja, es war die Kanzlerin, die am 4. September 2015 angesichts von immer mehr Flüchtlingen, die in Ungarn gen Österreich marschierten, faktisch einem Durchwinken der Gestrandeten nach Deutschland zustimmte. Heute darüber harsch zu urteilen, ist leicht. Ungarns Premier Orban agierte schon damals unberechenbar, wollte sich der Flüchtlinge erkennbar kaltherzig entledigen. Eine humanitäre Katastrophe stand bevor, massive Konflikte zwischen verunsicherten Sicherheitskräften und verzweifelten Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich, später auch zu Deutschland waren nur noch eine Frage von Tagen. Die Christin Merkel entschied sich in dieser fatalen Lage für das Helfen und gegen ein technokratisches Verhalten. Letztlich aber musste damals auch die mächtigste Frau Deutschlands vor einer massiven Veränderung unserer Welt kapitulieren, die Europa schon seit Jahren unter Druck setzte und vor einem Jahr kulminierte.

Flüchtlinge
Flüchtlinge im Oktober 2015 hinter der deutsch-österreichischen Grenze.
Foto: Armin Weigel

Meist wird dabei übersehen, dass die EU und auch Deutschland in der Flüchtlingsfrage schon damals seit Jahren inkonsequent gehandelt und einen gefährlichen Erosionsprozess zugelassen hatten. Drei Beispiele nur: Mit dem Schengener Abkommen war uns versprochen worden, die grenzenlose Freiheit innerhalb der EU durch den Schutz ihrer Außengrenzen zu sichern – wirksam geschehen ist dies nie, und wirklich möglich ist das in Wahrheit auch nicht. Das 2015 zerbröselte Abkommen von Dublin (Asyl ist in dem Staat zu beantragen, in dem Europa erstmals betreten wurde), hieß letztlich, dass wir Italien und Griechenland mit der Lösung der Flüchtlingskrise alleingelassen haben. Und als später immer mehr Flüchtlinge auch nach Deutschland kamen, ließen ausgerechnet wir als der Musterknabe Europas es zu, dass Hunderttausende Asylanträge unbearbeitet blieben und Hunderttausende Ausreisepflichtige faktisch bleiben konnten. Bis heute ist es so, dass sich Abgelehnte ebenso gute Hoffnung wie Anerkannte machen können, Deutschland nicht mehr verlassen zu müssen.

Angela Merkel
Gefragt: Angela Merkel spricht beim EU-Flüchtlingsgipfel mit Journalisten.
Foto: Stephanie Lecocq

Nein, nicht Merkel ist das Problem, und schon gar nicht ihr „Wir schaffen das“. Die Lauheit des deutschen Staates und unserer Gesellschaft fallen uns nicht erst seit 2015, seither aber für alle spürbar auf die Füße: Die Bundesrepublik hat sich nie getraut, auszusprechen und umzusetzen, dass wir Menschen in Not nur dann wirklich und auf Dauer helfen können, wenn diese Hilfe nicht für unbegrenzt viele gilt. Ohne eine Aufnahmequote wird das unser Land zerreißen – spätestens bei der nächsten großen Flüchtlingswelle. Und die wird kommen – vielleicht wegen einer Volte von Erdogan, wahrscheinlicher aber wegen der Kriege, der Konflikte und der Not ein paar Schiffs- oder Flugstunden von Europa entfernt, für die nicht Merkel, wohl aber lokale Potentaten und religiös Verblendete, Großmächte, Ölstaaten und die Erste Welt insgesamt verantwortlich sind.

Mit einer Obergrenze für Asyl allein aber werden wir es auch nicht schaffen, die deshalb zu uns fliehenden Menschen zu integrieren. Unser Land wie unsere Gesellschaft müssen den Mut, die Konsequenz und die Kraft aufbringen, Asylbewerbern klar zu vermitteln, was gegeben sein muss, damit wir ihnen helfen – und was wir im Gegenzug dafür verlangen. Es ist bezeichnend, wenn wir Asylbewerber detailliert über die Mülltrennung in Deutschland informieren, ihnen aber allenfalls verklemmt und nebenbei vermitteln, dass sie in einem christlich geprägten Land mit Gleichberechtigung von Mann und Frau Zuflucht gesucht haben – und vor allem: was das denn auch für sie und ihr Leben mit uns heißt.

Wenn wir uns davor aus gefährlicher Toleranz, mit weltfremder Naivität oder wegen lähmender historischer Schuldkomplexe drücken, werden wir das nie schaffen, was dieses starke Land eigentlich schaffen könnte.

E-Mail: christian.lindner@rhein-zeitung.net