Berlin

Das Schweigen der Waffen

Im Mai 1945 rücken sowjetische Soldaten auf einem Panzer auf den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor vor. Wenig später ist der Zweite Weltkrieg für die Deutschen Geschichte. Da liegt die Hauptstadt Berlin längst in Schutt und Asche. Millionen Menschen haben weltweit ihr Leben verloren. Foto: Ullstein
Im Mai 1945 rücken sowjetische Soldaten auf einem Panzer auf den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor vor. Wenig später ist der Zweite Weltkrieg für die Deutschen Geschichte. Da liegt die Hauptstadt Berlin längst in Schutt und Asche. Millionen Menschen haben weltweit ihr Leben verloren. Foto: Ullstein

Der Anblick ist gespenstisch. Wie Höhlenbewohner ziehen die Menschen in der Dunkelheit durch die Trümmerreste der einstigen Weltmetropole: In den ersten Maitagen von 1945 gleicht Berlin einer Geisterstadt. Unter dem blauen Frühlingshimmel rückt die Rote Armee immer weiter vor. Da hat sich Adolf Hitler längst der irdischen Gerechtigkeit entzogen.

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Von Esteban Engel

Ein paar Wochen vorher hatte er noch etwas Realitätssinn durchschimmern lassen: „Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen“, droht er im Dezember 1944, als die letzte deutsche Offensive in den Ardennen scheitert.

Schon im Sommer 1944 lässt sich die Götterdämmerung nicht mehr weglügen. Die Alliierten haben nach ihrer Landung in der Normandie ihre Stellung auf dem europäischen Festland gesichert. Im Osten durchbricht die Rote Armee die 700 Kilometer lange Front der Heeresgruppe Mitte, im Süden nehmen die Alliierten Rom ein. Mit dem gescheiterten Anschlag auf Hitler in der „Wolfsschanze“ am 20. Juli verliert Hitler die Aura der Unverwundbarkeit – das Regime steht vor einer Zäsur, schreibt der britische Historiker Ian Kershaw. Langsam zieht sich die Schlinge zu. Mit dem „Volkssturm“ wird die Gesellschaft bis in den letzten Winkel militarisiert. Im Januar 1945 verschanzt sich Hitler in Berlin. Den Führerbunker wird er bis zum Untergang nur einmal verlassen.

In zehn Kilometer Luftlinie vom einstigen Bunker Hitlers prangt heute über der Eingangshalle einer Villa in Berlin-Karlshorst auf Kyrillisch: „1941-1945 – Ruhm dem Großen Sieg“. Den Sieg hat das Haus fast unbeschadet überstanden. Im Garten stehen russische Panzer und ein Raketenwerfer. Nachdem in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 im einstigen Offizierskasino Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und die anderen Spitzen der Wehrmacht ihre Unterschriften unter die Kapitulationsurkunde setzten, schweigen in Europa die Waffen. Noch heute stehen im holzgetäfelten Saal auf einem Konferenztisch die Fähnchen der Siegermächte. Die Deutschen müssen am Katzentisch Platz nehmen.

Eine Demütigung, wie sie vier Tage vorher bereits Generaladmiral Hans­Georg von Friedeburg erlebt. Friedeburg ist von Großadmiral Karl Dönitz in die Lüneburger Heide geschickt worden – zur Kapitulation vor dem britischen Feldmarschall Bernhard Montgomery. Nach Hitlers Tod hat sich Dönitz mit der neuen Reichsregierung nach Flensburg abgesetzt und hofft noch auf Verhandlungen für einen Waffenstillstand. Friedeburg bittet „Monty“ am 4. Mai, ihn und seine Truppe gefangen zu nehmen. Der Brite lässt die Deutschen zappeln, nicht einmal ein Stuhl wird den Offizieren angeboten. Die Kapitulation auf dem Timeloberg in Wendisch Evern gilt nur für die deutschen Truppen in Norddeutschland, Dänemark, Norwegen und den nördlichen Niederlanden.

Deswegen besteht US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower auf einer Kapitulation für die gesamte Wehrmacht. Der vorletzte Akt spielt in einer Schule in Reims. Im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte ergibt sich am 7. Mai Generaloberst Alfred Jodl. Doch Stalin misstraut den Amerikanern. Der sowjetische Machthaber befürchtet ein doppeltes Spiel des Westens und verlangt eine Wiederholung der Zeremonie in Berlin. So besiegeln Keitel für das Oberkommando der Wehrmacht und das Heer, Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff für die Luftwaffe auch gegenüber der Sowjetunion die umfassende Niederlage. Amerikaner, Franzosen, Briten und Russen feiern in Karlshorst unterdessen den Triumph mit Wodka und Whisky bis in die Morgenstunden.

„This is your victory“, sagt der britische Premierminister Winston Churchill zu einer jubelnden Menge in Whitehall. Am Abend des 9. Mai strahlt der Reichssender Flensburg den letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht aus. „Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen“, heißt es. „Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.“ Die Radiobotschaft ist der Beginn einer neuen Legende, wie der Historiker und Publizist Volker Ullrich schreibt – die der „sauberen“ Wehrmacht, die bis zuletzt „anständig“ gekämpft habe. Erst 50 Jahre später, mit der Wehrmachtausstellung Mitte der 90er- und Anfang der 2000er-Jahre, wird auch dies als ein Märchen entlarvt.

50 Millionen Tote, der Massenmord der europäischen Juden, ein Kontinent in Schutt und Asche – Hitler und die Wehrmacht hatten unendliches Leid über Europa gebracht. Es sei selten, dass ein Land fähig und auch dazu bereit ist, einen Krieg bis zu seiner totalen Zerstörung zu führen, schreibt Kershaw in seinem Standardwerk „Das Ende“. Es sei auch selten, stellt der Brite nüchtern fest, dass die Eliten eines Landes unfähig oder nicht bereit gewesen seien, einen Führer zu beseitigen, der sie ins Verderben stürzen wollte. Für ihre Treue zahlen die Deutschen einen hohen Preis: Zwischen Juli 1944 und Mai 1945 sterben weitaus mehr Zivilisten als in den vier Kriegsjahren zuvor – und fast ebenso viele Soldaten.

Mai 2015. Dort, wo sich Adolf Hitler am 30. April vor 70 Jahren mit einem Pistolenschuss umbrachte und seine frisch vermählte Ehefrau Eva Braun eine Giftpille schluckte, spielen Schüler an ihren Smartphones. Eine Touristengruppe beugt sich über eine Tafel zum „Mythos und Geschichtszeugnis Führerbunker“. Sie müssen ihre Fantasie wohl sehr anstrengen. Statt Hitlers Betonfestung sehen sie einen Parkplatz, dahinter Rasen und einen Plattenbau.