Chemnitz

Auf den Straßen und im Netz: Der Streit um den Hitlergruß tobt

Von Gregor Mayntz
Vor der Chemnitzer Johanniskirche haben sich Zigtausende versammelt, um die Bands zu sehen – und um gegen rechtsextremistische Umtriebe in der Stadt zu protestieren.
Vor der Chemnitzer Johanniskirche haben sich Zigtausende versammelt, um die Bands zu sehen – und um gegen rechtsextremistische Umtriebe in der Stadt zu protestieren. Foto: dpa

Unbewiesene Behauptungen, entlarvte Fälschungen – den Ausschreitungen in der sächsischen Stadt folgt eine Kampagne um Lüge und Wahrheit.

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Als Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer beim Dialog mit aufgebrachten Chemnitzern nach einer gemeinsamen Basis suchte, traf er mit einer Feststellung zumindest auf keinen lauten Widerspruch: „Sind wir uns darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?“, fragte er ins Rund. Doch zuvor hatte schon eine Frau laut gerufen: „Das war ein Linker.“ Für die Berichterstattung über rechtsextremistische Ausschreitungen nach dem gewaltsamen Tod eines 35-jährigem Chemnitzers haben viele Menschen in der drittgrößten sächsischen Stadt nur eine Bewertung: „Alles gelogen.“ Es soll nicht sein, was nicht sein darf. Und so wird auch im Internet kräftig an der Wahrheit gezerrt und gebogen.

Da wird einer der Rechten angeblich als eingeschleuster „Linker“ entlarvt, weil dieser auf seinem Handrücken den Schriftzug „RAF“ (für die linksterroristische Rote Armee Fraktion) getragen habe. Nach Recherchen des Online-Portals „Watson“ handelt es sich bei diesen vorgeblichen Bildbeweisen jedoch um Fälschungen. Zudem wird behauptet, bei dem Hitlergrüßer handele es sich um den Fotografen einer Wochenzeitung. Daran ist so viel richtig, dass diese Fotograf tatsächlich zum Zeitpunkt der Demo in Chemnitz war – allerdings hat er den Mann mit dem erhobenen Arm selbst fotografiert – und ein Vergleich der Gesichter zeigt, dass es sich nicht um ein Selfie handelte.

Auf den Straßen und im Netz werden seit Tagen weitere Falschnachrichten verbreitet. Was die genauen Abläufe der Tat angeht, für die die Staatsanwaltschaft einen Iraker und einen Syrer verantwortlich macht, drückte sich Kretschmer noch zurückhaltend aus, als er feststellte, die Behauptungen, es sei hier darum gegangen, eine angegriffene Frau zu verteidigen, entsprächen „eher nicht“ der Wahrheit. Trotzdem hält sich diese Beschreibung in Chemnitz genau so hartnäckig wie die Überzeugung, die Messerstecherei vom Sonntag vor einer Woche habe längst ein zweites Todesopfer gefordert.

Damit einher geht die unter den Teilnehmern rechter Demonstrationen weit verbreitete Sicht, es habe auch bei den spontanen Protesten am Tag des Verbrechens keine „Hetzjagden“ gegeben. Kretschmer hält die von einigen Politikern dafür verwendete Bezeichnung, hier sei es zu Pogromen gekommen, für deutlich überzeichnet. Doch er verweist zugleich auf einschlägige Videos. Und die zeigen zumindest vereinzelt Verfolgungen von ausländisch aussehenden Menschen, die aus dem grölenden Mob heraus verfolgt wurden. Mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung untermauern die filmischen Beweise. Zudem lassen die gebrüllten Parolen an der Absicht der marschierenden Rechten und ihrer politischen Verortung keinerlei Zweifel.

In Sachen Hitlergruß ermittelt die Staatsanwaltschaft in rund zehn Fällen wegen Zeigens verbotener Symbole, einzelne Personalien sollen der Polizei vorliegen, obwohl sie wegen chronischer Unterbesetzung bei der Demo nicht überall direkt eingeschritten war. Nachhaltig hat die Debatte offenbar auf die rechte Szene selbst gewirkt. Als die rechte „Pro-Chemnitz“-Organisation am Donnerstag eine weitere Demonstration in Chemnitz begann, warnte der Sprecher ausdrücklich: „Nette Grüße mit dem rechten Arm gen Himmel werden heute rigoros mit Platzverweis bestraft.“

Von Gregor Mayntz