Wenn Schmerz zum ständigen Begleiter wird

Für 13 Millionen Menschen in Deutschland ist Schmerz kein Leid, das vorübergeht. Sie werden von ständigen Schmerzen an vielen Körperteilen geplagt. Ihr Schmerzsystem ist gestört. Doch laut Studien erhält nur jeder Fünfte eine Therapie wie am DRK-Schmerzzentrum in Mainz.
Für 13 Millionen Menschen in Deutschland ist Schmerz kein Leid, das vorübergeht. Sie werden von ständigen Schmerzen an vielen Körperteilen geplagt. Ihr Schmerzsystem ist gestört. Doch laut Studien erhält nur jeder Fünfte eine Therapie wie am DRK-Schmerzzentrum in Mainz. Foto: Fotolia

Seit Jahren ist Schmerz der ständige Begleiter der Mainzerin Eva Neumann. Sie arbeitet als Medizinisch-Technische Assistentin. Monoton, stereotyp ist ihre Arbeit dort, sagt sie. Sie ahnte schon lange, dass der Schmerz mit ihrer Arbeit zusammenhängt. Doch kein Arzt konnte ihrem Leid einen Namen geben. Auf ihrer Odyssee durch die Praxen nahmen sich nur wenige Mediziner Zeit für die 56-Jährige. Seit einer Woche hat ihr Schmerz einen Namen: Fibromyalgie.

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Rheinland-Pfalz. Seit Jahren ist Schmerz der ständige Begleiter der Mainzerin Eva Neumann. Sie arbeitet als Medizinisch-Technische Assistentin. Monoton, stereotyp ist ihre Arbeit dort, sagt sie. Sie ahnte schon lange, dass der Schmerz mit ihrer Arbeit zusammenhängt. Doch kein Arzt konnte ihrem Leid einen Namen geben. Auf ihrer Odyssee durch die Praxen nahmen sich nur wenige Mediziner Zeit für die 56-Jährige. Seit einer Woche hat ihr Schmerz einen Namen: Fibromyalgie.

Das ist eine schwere chronische Krankheit mit Schmerzen vor allem in der Muskulatur, den Gelenken und im Rücken. Außerdem sind die Patienten oft müde, wetterfühlig, unkonzentriert, antriebsschwach. Die Diagnose haben Ärzte im Mainzer DRK-Schmerzzentrum gestellt. Auch wenn der Faser-Muskel-Schmerz als unheilbar gilt, ist die Diagnose für Eva Neumann eine große Erleichterung. „Endlich hat sich mal jemand Zeit für mich genommen. Und endlich verstehen die Ärzte, wovon ich spreche. Außerdem habe ich hier Gleichgesinnte gefunden.“

13 Millionen Betroffene

Ihre Leidensgeschichte teilt die Mainzerin mit 13 Millionen Menschen in Deutschland. Sie alle leiden unter chronischem Schmerz. Fast 60 Prozent dieser 13 Millionen Betroffenen verfolgt der Schmerz seit mehr als drei Jahren, hat die europaweite Umfrage „Pain in Europe“ ergeben. Knapp 1900 Patienten – 1650 stationär, 230 in der Tagesklinik – werden pro Jahr allein im Mainzer DRK-Schmerzzentrum behandelt, berichtet der Ärztliche Direktor, Prof. Hans-Raimund Casser. Nach seinen Worten ist Eva Neumanns Leidensgeschichte typisch: Viele der etwa 4800 Patienten, die sich pro Jahr in Mainz wegen chronischer Schmerzen melden, sind laut Casser nach einer oft jahrelangen Odyssee durch Arztpraxen verunsichert und ratlos. Nicht selten gerieten sie in ihrem sozialen Umfeld ins Abseits, weil sich ihre Krankheit nicht einfach erklären lässt. „Schmerz ist etwas Subjektives“, sagt der Experte. Doch die Menschen wollen eine objektive Diagnose wie bei Krebs oder einem Schlaganfall.

Doch das ist nicht so leicht bei Cassers Patienten. Oft hat sich ihr Schmerz längst verselbstständigt, ist durch den Körper gewandert und kann nicht mehr einer eindeutigen Ursache zugeordnet werden. Der Schmerz ist so zu einer eigenen Krankheit geworden. „Das Schmerzsystem selbst ist gestört“, erläutert Casser. Deshalb muss jeder Betroffene in der Klinik zunächst einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen und seinen Schmerz beschreiben. Unterschwellig geben die Antworten den Ärzten auch Hinweise auf psychische Belastungen der Patienten.

Interdisziplinärer Ansatz

50 Prozent der Patienten, die in Mainz vorstellig geworden sind, werden nach einer ersten Begutachtung an die Haus- und Fachärzte zurücküberwiesen. Auf alle anderen wartet eine bis zu vierwöchige Therapie. Sie beginnt mit einer intensiven Begutachtung des Patienten durch viele Spezialisten – vom Psychologen über den Physiotherapeuten, den Neurochirurgen bis hin zum Orthopäden. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist das Besondere eines Schmerzzentrums. Und bei kaum einem anderen Krankheitsbild ist er angebrachter als bei chronischen Schmerzen. „Normalerweise denken wir, dass eins plus eins plus eins drei ist. Doch hier kann es sein, dass das Ergebnis fünf lautet“, sagt Casser. Um den Schlüssel für den Schmerz zu entdecken, braucht es natürlich Zeit: „Bei vielen Hausärzten müssen Patienten in zehn Minuten alles rüberbringen, was sie quält. Wenn sie das nicht können, haben sie ein Problem.“ Die Mainzer nehmen sich daher ein bis zu eineinhalb Stunden Zeit für die Erstanamnese.

Erst wenn die Spezialisten der Mainzer Klinik eine Vorstellung davon haben, woher der Schmerz des Patienten kommt, entwickelt der behandelnde Arzt eine maßgeschneiderte Therapie. Dabei spielen dann zwar auch konventionelle Behandlungen wie eine Operation oder Schmerzmittel eine Rolle. Doch vor allem geht es laut Casser darum, den Patienten zum Manager seines Schmerzes zu machen: „Unser Ziel ist es, die Schmerzpatienten selbstständig zu machen und nicht abhängig davon, was ein Arzt ihnen sagt.“

Teil der Behandlung ist daher auch ein Alltagstraining. Die Art, wie Physiotherapeutin Heike Brehl die Schmerzpatienten in einem speziellen Übungsraum für die Rückkehr in den körperlich anstrengenden Alltag vorbereitet, mutet ein wenig skurril an: In der einen Ecke hebt die 60-jährige Nicoletta Lay Wasserkisten in ein Regal. 35 Jahre lang hat die Mainzerin als Näherin gearbeitet. Danach hat sie in einer Textilreinigung 45 Kilogramm schwere Wäsche aus riesigen Maschinen gewuchtet. Zuletzt konnte sie den Schmerz nur noch mithilfe von Medikamenten ertragen. Jetzt zeigt ihr die Physiotherapeutin, wie sie Kisten so hebt oder Schrauben in eine Wand dreht, dass ihr Körper nicht mit Schmerz reagiert. Derweil stemmt Lucia-Maria Eckert eine Hantel über ihren Kopf und legt sie dann in einer Sprossenwand ab. Die 58-Jährige muss in ihrem Beruf ständig Schweres heben. Sie ist Altenpflegerin, aber nach einem Bandscheibenvorfall und mehreren Operationen schmerzempfindlich. Beide Patienten sind schon nach einer Woche in Mainz überzeugt, dass sie in ihr Berufsleben zurückkehren können.

Nur 10 Prozent kehren zurück

Von den Schmerzpatienten, die in der Mainzer Klinik behandelt worden sind, kehren nur 10 Prozent zurück, berichtet Casser. „Einen Drehtüreffekt kennen wir also nicht.“ Will heißen: Die Behandlung in dem Schmerzzentrum – deutschlandweit gibt es davon 33 – scheint nachhaltig zu wirken.

Dazu trägt auch bei, dass die Pflegekräfte in dem Mainzer Zentrum eine deutlich größere Rolle spielen als in „normalen“ Krankenhäusern. Sie können und sollen sich mehr Zeit für die Patienten nehmen. Aus Sicht des Ärztlichen Direktors Casser sind sie ein wichtiger Bestandteil der Therapie und nehmen daher auch an den interdisziplinären Runden der Spezialisten teil. Denn häufig entwickeln Patienten schneller Vertrauen zu einem Pfleger denn zu einem Halbgott in Weiß, der vor sie tritt. „Wir sind oft ein Übersetzer für die Patienten. Und wir tragen dazu bei, dass nichts über ihren Kopf hinweg entschieden wird“, sagt Krankenschwester Ramona Hey.

Bei Fibromyalgie-Patientin Eva Neumann hat all dies Wirkung gezeigt: Sie will bei ihrer Arbeit in der Uniklinik künftig mehr Pausen einlegen, stärker in ihren Körper hineinhören. Sie will also zur Arbeit zurückkehren? „Ja. Ich muss.“

Von unserem Redakteur Christian Kunst

Weitere Informationen: www.drk-schmerz-zentrum.de