Gesundheit: Wenn die Seele leidet, geht es auch dem Rücken schlecht

Wer den Krankheiten einer Gesellschaft auf den Grund gehen will, der sollte die Menschen untersuchen, die besonders leiden. Bei der Volkskrankheit Rückenschmerzen liegt es nahe, die Situation der Pflegekräfte zu beleuchten.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

In ihrem Job versammeln sich die Leiden vieler: Sie arbeiten unter hohem Zeitdruck, unter Stress, unter einer hohen körperlichen Belastung, verdienen wenig Geld, erhalten wenig Anerkennung, und ihnen fehlt oft eine berufliche Perspektive. Arbeitsmediziner der Universitätsmedizin Mainz haben 160 dieser Pflegekräfte im Alter von 17 bis 62 Jahren, die in rheinland-pfälzischen Altenheimen arbeiten, befragt, untersucht und für sie ein Konzept zur Erhaltung der Rückengesundheit erarbeitet.

Unterstützt wurden sie dabei von der Unfallkasse Rheinland-Pfalz, der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, vom Mainzer Sozialministerium sowie dem Europäischen Sozialfonds. Das Ergebnis: Es gibt klare Anzeichen dafür, dass Rückenschmerzen und psychische Leiden eng zusammenhängen.

Bislang gab es nur Indizien dafür, dass Rückenbeschwerden oft einhergehen mit seelischen Problemen. Doch die Studie der Mainzer Wissenschaftler legt nahe, dass beides ursächlich für das jeweils andere ist. Die Mainzer Arbeitsmedizinerin und Autorin der Studie, Dorothee Frey, sagt: „Wer im Stress ist, bekommt mit großer Wahrscheinlichkeit auch Rückenschmerzen. Mindestens 70 Prozent der Beschwerden lassen sich nicht auf eine organische Ursache zurückführen. Doch wenn organisch nichts vorliegt, dann muss die Psyche schuld sein. So einfach ist das.“

Erhebliche Schlafprobleme

Das konkrete Ergebnis der Untersuchung der Pflegekräfte ist erschreckend: 45 Prozent der zum Großteil weiblichen Altenheimmitarbeiter klagen über Rückenschmerzen, die sie seit mehr als drei Monaten plagen. 44 Prozent haben erhebliche Schlafprobleme, ruhen in der Nacht weniger als sechs Stunden, fast 50 Prozent sind regelmäßige Raucher, fast jede dritte Befragte fühlt sich ausgebrannt und überfordert, jede vierte Pflegekraft hat Probleme, nach der Arbeit runterzukommen – aus Sicht der Studienautoren klare Indikatoren für eine Depression.

Wie eng psychische und körperliche Beschwerden zusammenhängen, zeigt sich auch in dem Therapiekonzept, das Frey und ihre Kollegen für die Pflegekräfte erarbeitet und erfolgreich angewendet haben. Es besteht neben den klassischen Elementen einer rückengerechten Arbeitsweise und der Verbesserung der körperlichen Fitness vor allem auch aus einem Stress- und Konfliktmanagement.

„Pflegekräfte sind trotz schlechter Bezahlung höchst engagiert, motiviert, aber eben auch frustriert, weil ihre oft dementen Patienten sehr fordernd sein können. Den Wünschen der Patienten nicht nachkommen zu können, belastet die Pflegekräfte mehr als Konflikte bei der Arbeit. Sie arbeiten unter großem Zeitdruck.“ 62 Prozent der Befragten klagen über fehlende Zeit. Ebenso viele sagen, dass sie sich um zu viele Patienten kümmern müssen.

„Also müssen sie lernen, Prioritäten zu setzen, um aus dieser Spirale herauszukommen.“ Am Ende des 18-monatigen Projekts hat sich das bessere Zeit- und Stressmanagement ausgezahlt: „Die Rücken- und Nackenschmerzen sind deutlich zurückgegangen.“ Doch Frey sieht nicht nur Pfleger in der Pflicht. Vor allem müssten sich die Rahmenbedingungen ändern: Der größte Stressfaktor sind nämlich die stark gewachsenen Dokumentationspflichten – 67 Prozent der Befragten klagen darüber.

Doch Frey weiß: „Pflegekräfte haben keine Lobby. Solange sie schlecht bezahlt werden, haben sie kein Ansehen in der Gesellschaft. Das kommt bei der Politik so langsam an. Doch noch immer ist die Pflege mit 7 Milliarden Euro unterfinanziert.“ Angesichts des demografischen Wandels dürfte diese Summe eher größer werden.

Die Mainzer Forscher betrachten ihre Studie als Blaupause für eine Gesellschaft, in der Rückenschmerzen zur Volkskrankheit geworden ist: „Wenn der Betroffene diesem Prozess nicht entgegenwirkt, sind die Folgen des Leidens stets die gleichen: ein eingeschränktes subjektives Wohlbefinden und eine verminderte Leistungsfähigkeit, zunehmende Arbeitsunfähigkeit sowie nicht selten frühzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben.“

Die Kosten sind enorm: Laut Robert Koch-Institut betragen die Krankheitskosten für Rückenleiden jährlich geschätzte 12,6 Milliarden Euro. Immer mehr große Firmen versuchen daher, mit einem Gesundheits- und Stressmanagement gegenzusteuern. Und auch die Verwaltungen werden immer aktiver, wie die Unfallkasse Rheinland-Pfalz berichtet.

Zu ihren „Kunden“ gehören neben Verbandsgemeinden auch alle Ministerien, die Staatskanzlei, die gesamte Polizei, Amtsgerichte und etwa die Stadt Koblenz. In den meist zweijährigen Projekten geht es nicht nur um die klassische Rückenschulung oder ergonomische Arbeitsplätze, sondern vor allem um eine „Schaffung gesunder Strukturen“, wie es Dr. Kai Lüken, stellvertretender Leiter der Abteilung Prävention bei der Unfallkasse, ausdrückt.

Ziel sei, das Gute zu bewahren, krank machende Strukturen aber zu verändern. „Dabei setzen wir ganz oben an. Wenn die Chefs nicht mitspielen, machen wir nichts.“ Denn krank sind nach Lükens Beobachtung meist nicht die Chefs. „Die Managerkrankheit ist ein Mythos.“ Denn je größer der Handlungsspielraum ist, umso gesünder seien die Mitarbeiter.

Aber selbst wenn die Tätigkeit sehr verantwortungsvoll ist, die Anerkennung allerdings ausbleibt, kommt es oft zu psychischem Stress und in der Folge auch zu Rückenproblemen. Gratifikationskrise nennen die Experten dieses Phänomen.

Höheres Herzinfarktrisiko

Gerade in Verwaltungen gibt es laut Lüken oft hohe Anforderungen, aber eine niedrige Belohnung und kaum positive Rückmeldungen. Häufig leide auch die soziale Kommunikation. „Es gilt das Ehda- Prinzip“, sagt Lüken. Die Folge: Bei Verwaltungsangestellten ist das Herzinfarktrisiko dreimal so hoch wie bei anderen Arbeitnehmern. Also versucht die Unfallkasse, bei ihren Projekten die soziale Kommunikation in den Verwaltungen zu verbessern.

Instrumente sind Mitarbeiter- und Gesundheitszirkel. Hier können Stressfaktoren thematisiert werden. Vor allem sind aber die Vorgesetzten in der Pflicht: „Sie sollten delegieren, um Freiräume zu schaffen, aber nicht wegdelegieren.“