Tallinn

Estland bewegt sich zwischen Euphorie und jäher Ernüchterung

Estland gilt als Musterschüler in der EU. Doch die derzeit sehr positiven Wirtschaftszahlen könnten schon bald Makulatur sein, falls das Land für andere in der Euro-Zone mitbezahlen muss.

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Tallinn – Estland sieht die Euro-Schuldenkrise unter einem ganz besonderen Blickwinkel. Der baltische Staat ist erst seit Jahresanfang in der Euro-Zone – doch die anfängliche Euphorie wurde rasch gebremst. Denn wenn in Grafiken die verschiedenen Wirtschaftskennzahlen optisch aufbereitet werden, sind die Esten stets als Musterschüler vorn dabei: Kaum Staatsverschuldung, ein vergleichsweise hohes Bruttoinlandsprodukt und hohe Wachstumsraten prägen das Bild. Falls es aber zu neuen Rettungspaketen für Griechenland, Irland und Portugal kommt, muss auch das kleine Estland mitbezahlen.

„Natürlich sind wir solidarisch und zahlen in diesem Fall auch“, meint Marje Josing vom estnischen Konjunkturinstitut. Sie steht dem Institut für Wirtschaftsforschung vor und ist eine glühende Befürworterin des Beitritts Estlands zur Euro-Zone: „Für einen kleinen Staat wie Estland überwiegen die Vorteile, sich einer Gemeinschaftswährung anzuschließen.“ Gleichwohl kann Josing nicht verhindern, dass sich in Estland viele Phänomene und Probleme zeigen, die auch wir Deutschen von der Einführung des Euro kennen: So wird auf Tallinns Straßen ganz offen von der Verteuerung gesprochen, die der Euro mit sich gebracht habe. Da widerspricht Josing: „Das kann gar nicht sein, unsere Währung war schon seit Jahren mit festen Wechselkursen an den Euro gekoppelt.“ Aussagekräftige Untersuchungen stünden noch aus.

Aber es gibt noch einen weiteren, nicht zu unterschätzenden emotionalen Aspekt bei der Euro-Umstellung: Nach Ende der Sowjetherrschaft über Estland 1991 hatte das Land seine erste eigene Währung erhalten – die estnische Krone, die vielen der gerade einmal 1,3 Millionen Esten in den 20 Jahren ihrer Gültigkeit sehr ans Herz gewachsen ist.

So folgt jeder Diskussion über Rettungspakete eine Ernüchterung der Esten zum Thema Euro. Marje Josing wiederholt dazu mantraartig ihre Überzeugung, dass Estland von den Euro-Vorteilen – leichter Zugang zum Binnenmarkt, reduzierte Kursschwankungsrisiken – vor allem profitiert. An einer Aufgabe scheitert aber auch sie: „Es ist den Esten schwer klarzumachen, warum sie mit ihren Steuern bezahlen sollen, dass Griechenland es nicht schafft, des Problems des großen Schwarzmarktes Herr zu werden.“

Von unserem Redakteur Claus Ambrosius